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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
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ausgehen, dass er Tony getötet und zerstückelt hatte.
    Wegen dieses Drecksacks – wer auch immer er sein mochte –würde niemals der Verdacht auf mich fallen. Eigentlich hätte ich mich dafür bei ihm bedanken müssen.
    Aber das konnte ich nicht.
    Ich wollte nicht, dass er sie vergewaltigte, umbrachte, oder überhaupt nur anfasste.
    Verrückt, oder?
    Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Ich bin mir ja nicht einmal sicher, weshalb ich diese Gefühle hatte. Es ging nicht darum, dass ich Judy retten oder sie vor Schmerzen bewahren wollte oder so was.
    Das stimmt nicht ganz. Einerseits wollte ich es schon, aber andererseits wollte ich es auch wieder nicht.
    Ich hätte sie liebend gern gerettet, aber leider musste sie sterben.
    Und ich war diejenige, die sie töteten musste.
    Nicht dieser Typ, von dem ich nicht wusste, wer er war.
    Nicht dieser Fremde, dieser Störenfried, dieser Dieb.
    Judy gehörte mir. Nicht ihm.

    Vor der Entscheidung
    Einen Moment lang blieb mein Herz stehen, als Judy plötzlich die Augen aufschlug und direkt in meine Richtung sah. Ich hielt die Luft an.
    Kann sie mich sehen?
    Wahrscheinlich nicht. Das Gebüsch verbarg mich gut.
    Wenn ich sie sehen kann, kann sie mich auch sehen.
    Vielleicht war es so. Trotzdem bezweifelte ich, dass sie mich bemerkt hatte. Sie reagierte nicht, sondern blieb reglos mit nach oben gezogenen Armen stehen. Ihre nackte Haut glänzte im Feuerschein.
    Ich hob die Pistole und zielte.
    Als Judy noch immer nicht reagierte, wusste ich, dass sie mich nicht sah. Sie hatte keine Ahnung, dass ich mit meiner Pistole im Gebüsch lag.
    Ich zielte auf ihr Herz.
    Judy war vielleicht acht oder neun Meter von mir entfernt. Das ist weiter als man denkt, wenn man mit einer kleinen Faustfeuerwaffe einen sauberen Treffer landen will.
    Dass ich sie erwischen würde, stand außer Zweifel, es fragte sich nur, wo.
    Vielleicht in den Hals oder die Schulter oder in den Bauch oder die rechte Brust, wenn es nicht gar nur ein Streifschuss wurde.
    Meine Chancen, sie mit dem ersten Schuss zu töten, standen schlecht.
    Vielleicht würde ich drei oder vier Kugeln brauchen, und wie viele hätte ich dann noch übrig für den Typen, der sie hierhergebracht hatte?
    Wo war er überhaupt?
    Schlief er? Im Zelt? Vielleicht. Vielleicht war er aber auch im Wald unterwegs und sammelte Feuerholz.
    Oder er schlich sich gerade von hinten an mich an.
    Ich bekam wieder eine Gänsehaut, ließ die Pistole sinken und spähte in den Wald.
    Nichts als Finsternis.
    Meine Augen hatten sich an die Helligkeit des Feuers gewöhnt, und ich sah noch viel weniger als vorher.
    Mein Gehör allerdings funktionierte noch hervorragend. Und ich hörte nichts. Kein Geräusch, das darauf schließen ließ, dass sich jemand anschlich.
    Das heißt aber noch lange nicht, dass sich nicht trotzdem jemand anschleicht.
    Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Lager zu. Judys Kopf war auf die Brust gesunken, und ihre Augen schienen geschlossen. Vielleicht war sie eingeschlafen oder hatte das Bewusstsein verloren.
    Sonst war alles beim Alten.
    Ich betrachtete das Zelt. Es war ein kleines Zweimannzelt, das mir, wenn ich gestanden hätte, etwa bis zur Brust gereicht hätte.
    Drinnen brannte kein Licht, das hätte man durch den dünnen Nylonstoff mit Sicherheit gesehen. Den Eingang konnte ich von meinem Standort aus nicht sehen, deshalb wusste ich auch nicht, ob er offen oder geschlossen war.
    Je länger ich das Zelt beobachtete, desto fester war ich davon überzeugt, dass Judys Folterer darin in seinem Schlafsack lag und sich von den Strapazen der Nacht erholte. So machen das die Typen immer nach dem Vögeln: Sie schlafen ein.

    1. So lange er schlief, konnte ich tun, was ich wollte.
    2. Aber was sollte ich tun?
    3. Beide erschießen?
    4. Ihn erschießen und Judy befreien?
    5. Ihm aus dem Weg gehen und Judy befreien?

    6. Ihm aus dem Weg gehen und Judy erschießen?
    7. Beiden aus dem Weg gehen, nach Hause gehen und auf bessere Zeiten hoffen?

    Ich dachte mir noch ein paar Alternativen aus, von denen die meisten damit zu tun hatten, den Typen in meine Gewalt zu bringen.
    Ich stellte mir vor, was ich dann mit ihm täte. Oder was Judy und ich mit ihm täten. Oder was wir drei zusammen alles machen könnten.
    Diese Ideen waren aber nicht besonders praktikabel.
    Und viel zu riskant.
    Im Grunde waren nur meine ersten fünf Möglichkeiten einigermaßen realistisch. Ich wägte sie lange gegeneinander ab, und nach einer Weile strich ich die, bei

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