Nachtauge
junge Frau wie sie, zart im Herzen, fest im Verstand.
Sicher träumte sie von einem ganz anderen: einem Ukrainer, der sie in seine starken Arme nahm und beschützte, der nicht die eigene Haut zu retten versuchte im Krieg, sondern bei den Partisanen mitmachte, an vorderster Front. Mutig, geradeheraus, geschickt. Kein Brillenträger. Einer, der mit beiden Beinen fest im Leben stand.
Das Stechen blieb, die Sehnsucht, der Schmerz. Die Gestapo sagte ihm nicht, ob sie noch lebte, und Axel hatte geschimpft, er werde einen Teufel tun und nachfragen. Wo war sie jetzt? In Dortmund in einer Zelle der Steinwache? In Soest im Straflager auf dem Plettenberg? Oder hatte man sie längst aufgeknüpft?
Sein Selbstmitleid widerte ihn an. Er stand auf, zog sich im Flur die Schuhe an und die Jacke. Nahm den Schlüssel und verließ das Haus. Den Weg zum Lager gingen seine Füße wie von allein.
Er sah mechanisch nach dem Rechten, prüfte die Vorräte, die Wachen. Aber es half nicht. Das Stechen in seiner Brust blieb, es verstärkte sich sogar. Überall hier war Nadjeschka gewesen, in der Küchenbaracke, im Waschraum, im Keller neben der Vorratskammer.
Seitdem die beiden Frauen ihn reingelegt hatten, begegnete ihm Oestreicher, der alte bärtige Wachmann, mit noch mehr Unterwürfigkeit, er fürchtete wohl ein Strafverfahren oder die Versetzung an die Front. Georg klopfte ihm auf die Schulter. »Machen Sie sich keine Gedanken.« Er wünschte ihm eine gute Nacht und verließ das Lager.
Ein milder Wind wehte durch die nächtlichen Straßen, er rührte an die Blätter in den Bäumen, sie raschelten. Georg wollte nicht nach Hause. Ruhelos lief er die Mendener Straße hinauf. Einmal meinte er, Schritte zu hören, und drehte sich um. Aber da war niemand. Die Straße lag leer und verlassen da.
Vor dem Tor der Autozentrale Emil Müller blieb er stehen, legte die Hand an das Holz. Matthias sollte hier sein und nicht in Russland. Wie lange war er schon weg? Vier Tage? Bald würde er an der Front eintreffen und wieder im Schützengraben hocken und kein Auge zutun.
Zwei Ford-Lastwagen standen am Straßenrand. Emil Müller schleppte die defekten Fords der Wehrmacht aus dem ganzen Landkreis hierher und reparierte sie. Matthias hatte einmal von der amerikanischen Autoelektrik erzählt, von den Zündspulen und dem Motoraufbau – die deutschen Automonteure konnten besser mit Bosch-Teilen umgehen als mit dem amerikanischen Material, aber er, Matthias, wollte sich spezialisieren, er mochte Ford.
Georg löste sich vom Tor und ging weiter, lief bis zum Ehrenhain an der Ruhrbrücke. Der Fluss gurgelte leise. Das Laub in den Baumwipfeln flüsterte. Zu Seiten der Theodorskapelle standen uralte Grabsteine wie Wächter in zwei langen Reihen. In den halbrunden Mauernischen waren auf Bronzetafeln die Namen der jungen Männer aus Neheim verzeichnet, die im letzten Weltkrieg gefallen waren. Eines Tages würden neue Bronzetafeln hinzukommen mit den Namen der Menschen, die dieser Weltkrieg verschlungen hatte. Matthias Maier stand dann vielleicht mit darauf, und er, Georg, würde als alter Mann hierherpilgern und die Finger auf die Buchstaben legen und an seinen Freund denken, der so jung hatte sterben müssen.
Er fuhr herum. Da stand jemand im Eingang zum Ehrenhain. Eine Frau mit wirren, kurzen Haaren und zerschlissenem Kittel.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Noch einen. Tränen glitzerten in ihren Augen. Sie biss sich auf die Lippe, atmete bebend. Die ersten Tränen rollten über ihre Wangen.
Auch er musste blinzeln, und sein Gesicht verzog sich, weil er weinte. »Du«, sagte er.
»Ja, ich.« Sie blieb vor ihm stehen.
»Man hat dich gehen lassen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bin abgehauen. Wenn sie mich finden, erschießen sie mich, wie den Pfarrer, der mit mir geflohen ist. Aber ich musste zu dir.«
Ein Schauer lief durch seinen Körper.
Sie griff nach seiner großen schlaffen Hand, nahm sie in ihre kleinen warmen Hände. »Georg Hartmann, vergibst du mir?«
Er konnte nichts sagen, weil ihm sein Herz wie ein Klumpen in der Kehle festhing. Also erwiderte er nur ihren Händedruck. Der Fluss gurgelte, die Mondblätter flüsterten, und all das hatte plötzlich wieder einen Sinn. Das Knirschen des Kieswegs unter seinen Schuhen, als er das Gewicht nach vorn verlagerte, um ihr näher zu sein. Das Atmen hatte Bedeutung, das Fortblinzeln der Tränen, das Halten von Nadjeschkas Hand.
29
Nachts eine Lancaster im Tiefflug zu steuern war eine
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