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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Herausforderung. Für gewöhnlich flog er die schweren Bomber in Tausenden Metern Höhe und nicht dicht über dem Boden. Kens Nerven vibrierten vor Anspannung, fast so stark wie die Motoren. Er starrte mit weit geöffneten Augen durch die Scheibe nach draußen und hielt das Steuer umklammert. Sein Hemd klebte am Leder des Pilotensitzes. Dreißig Tonnen Stahl zog man nicht mal eben nach oben, wenn sich ein Hindernis aus der Dunkelheit schälte. Seine Reaktionsschnelligkeit entschied über Leben und Tod.
    Wieso hatte Gibson die Flughöhe noch weiter gesenkt? Wollte er protzen mit ihnen, sah er den Einsatz seines Geschwaders als makabren Sport, bei dem die Gewinner Helden wurden und die Verlierer starben? Sie sollten exakt 18,3 Meter über dem Boden fliegen. Jede dieser Maschinen war von großem Wert für England, und das Leben der Piloten ebenfalls, so sagten sie es zumindest immer. Und da verlangte man von ihnen, mit 340 Stundenkilometern so dicht über die baum gesäumten Ufer des Eyebrook-Stausees zu jagen, dass ihnen die Baumwipfel den Lack von der Mühle kratzten?
    Er würde Guy Gibson zur Rede stellen, gleich nach diesem Trainingsabwurf. Wenn er will, dass ich weiter mein Leben riskiere, dachte Ken, ganz ohne deutsche Flak und ohne Anlass, dann soll er mir sagen, für welches Angriffsziel wir trainieren.
    »Flughöhe stimmt«, rief der Navigator über das Gebrüll der Motoren. Ken musste ihm glauben, er konnte es nicht nach prüfen, nicht derart exakt. Sie hatten zwei Signalscheinwerfer am Flugzeug befestigt, einen etwas nach Steuerbord versetzt im Kameraloch vorn, den anderen am Rumpf hinter der Bombenbefestigung. Ihre Strahlen berührten sich auf der Erdoberfläche und bildeten eine liegende Acht, wenn die Flughöhe von 18,3 Metern erreicht war. Von seinem Platz aus konnte er das nicht sehen. Der Navigator stand im Gang, der in die Kanzel führte, von dort aus sah er den Lichtfleck über den Steuerbordflügel. Ken stellte sich vor, wie der Fleck auf der Wasseroberfläche des Stausees tanzte.
    »Fluggeschwindigkeit dreihundertvierzig Kilometer pro Stunde«, sagte der Bordingenieur rechts neben ihm. Er hielt die Hand auf dem Gashebel und umklammerte gleichzeitig den Klappsitz, hoch konzentriert, als käme es auf jeden Bruchteil eines Stundenkilometers an.
    Ken sagte: »Bombenschütze bereithalten!« Seine Aufgabe war es nun, die richtige Anfluglinie hinzubekommen, und anschließend die Rollachse des Flugzeugs waagerecht zu halten. Spätestens 366 Meter vor den Zielattrappen musste die Bombe abgeworfen werden.
    Die Attrappen tauchten auf, zwei weiße Tafeln, jeweils zehn Meter hoch, und über zweihundert Meter voneinander entfernt aufgestellt. Die Tirpitz war etwa zweihundertfünfzig Meter lang – konnte es sein, dass sie doch für einen Angriff auf das weltgrößte Schlachtschiff trainierten?
    Konzentrier dich!, ermahnte er sich. Eine falsche Bewegung, und er brachte sie alle um, so niedrig, wie sie über dem See flogen. Er hielt auf die Attrappen zu, korrigierte noch einmal nach, dann wartete er darauf, dass der Bombenschütze auf den Auslöser drückte.
    Das Flugzeug machte einen Satz. Die Bombe war ausgelöst worden, die Lancaster war plötzlich leichter. Er zog sie hoch, stabilisierte sie. Dann flog er eine Kurve.
    »Wir haben getroffen!«, jubelte der Navigator.
    Der Ingenieur sagte: »Dann ab nach Hause.«
    »Habt ihr gehört, dass sie eine Urlaubssperre verhängt haben?« Der Navigator betrat die Kanzel. »Scheint ernst zu werden. Bald werfen wir die richtigen Geschenke.«
    »Zurück auf eure Posten«, mahnte Ken. »Der Einsatz ist noch nicht vorüber.« Er flog sie zurück nach Scampton. Im Landeanflug bemerkte er eine seltsame Personengruppe am Rollfeldrand. Sie schienen auf etwas zu warten.
    Er brachte die Lancaster runter, setzte sie aufs Gras. Holpernd fuhren sie zum Stellplatz. Sobald die Motoren zum Stillstand gekommen waren, zwängte er sich durch den schmalen Gang nach hinten durch und stieg hinter dem Navigator die Leiter hinab. Kaum hatte er festen Boden unter den Füßen, traten die Fremden auf ihn zu. Einer von ihnen sagte: »Kenneth Fraser?«
    »Ist meiner Mutter was passiert?«, fragte er. Es war ihr in den letzten Monaten nicht besonders gut gegangen, und Sheila konnte sich kaum noch um sie kümmern, seit sie geheiratet hatte und nach Aberdeen gezogen war. Sofort bereute er, sie letztes Wochenende nicht besucht zu haben.
    »Nein«, erwiderte der Mann. »Wir müssen Ihnen ein paar Fragen

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