Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
Doppelagenten gleichzeitig für mehrere Parteien zu arbeiten.
    Manche Menschen brauchten die Anerkennung ihrer Vorgesetzten. Ein Lob von hoher Stelle motivierte sie mehr als jedes Honorar. Und es gab die Gelangweilten, die ein alltägliches Leben niemals zufriedenstellen könnte. Sie brauchten den Nervenkitzel, die Aufregung.
    Seine Instinkte sagten ihm, dass Nachtauge zu keiner dieser Gruppen gehörte. Sie hatte einen anderen Grund, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Neugier und Machthunger mochten mit hineinspielen, der Kern allerdings war etwas anderes – etwas, das er noch bei keinem Agenten erlebt hatte. Wenn er diesen Kern fand, konnte er sie zum Reden bringen. Es gab keinen Menschen ohne verwundbare Stelle.
    Er sagte: »Sie haben nicht versucht zu fliehen. Das heißt, sie wollten verhört werden. Was immer Sie herausgefunden haben, es genügt Ihnen nicht. Sie hoffen, mehr in Erfahrung zu bringen.«
    »Und Sie?«, fragte sie. »Warum sind Sie hier, obwohl Ihnen mein Schuss offensichtlich zu schaffen macht? Die Wunde ist noch verbunden, und Ihnen steht der Schweiß auf der Stirn. Nach einem Monat Rekonvaleszenz ist das erstaunlich. Entweder man verreckt, oder man hat Glück, es ist nur ein Durchschuss, und man ist nach zwei Wochen wieder auf den Beinen. Ist die Lunge perforiert? Oder hat sich die Wunde entzündet, weil die Kugel Dreck in Ihren Körper eingeschleppt hat? Sie lecken sich häufig die Lippen, was auf Mundtrockenheit und damit auf den Einsatz von schmerzstil lendem Morphium schließen lässt. Warum schickt man jeman den her, der eigentlich im Krankenhaus liegen müsste? Warum Sie? Hat der MI 5 nicht genügend Männer?«
    Sie versuchte in eine dominierende Position zu gelangen, indem sie ihn an seinen Fehler von damals erinnerte. Gleich war das zähe Bohren in der Schulter wieder da, die Schmerzmittel konnten es nie ganz besiegen. »Der deutsche Geheimdienst scheint mehr Probleme zu haben als wir. Sind Sie auch in Quenzsee bei Brandenburg ausgebildet worden? Die Ausbildung scheint eher flüchtig. Ihre Kollegen waren leicht zu schnappen.«
    »Natürlich«, sagte sie. »Die meisten Agenten, die mit mir ausgebildet wurden, waren unfähige Großmäuler. Ich bin mir sicher, dass kein Einziger von denen noch im Einsatz ist.«
    »Wie viele waren es?«
    Nachtauge lächelte. »Warum fragen Sie? Haben Sie Sorge, dass Ihnen doch einer entgangen ist?«
    »Wie sind Sie gelandet? Hat ein U-Boot Sie gebracht?«
    »Ein U-Boot!« Sie schnaubte verächtlich.
    »Also sind Sie mit dem Fallschirm im Hinterland abgesprungen, mit gefälschtem Ausweis, ein paar Hundert Pfund Sterling, einer Pistole und einer Selbstmordkapsel. Richtig? Ah, den kleinen Klappspaten habe ich vergessen, mit dem Sie nach der Landung den Fallschirm vergraben haben. Wo hat man Sie abgesetzt? Lassen Sie mich raten! In den Mooren von Cambridgeshire?«
    Sie schwieg.
    »Nach der Landung sind Sie einige Wochen in den Mooren geblieben, bis jeder, der eventuell Ihren Absprung beobachtet haben könnte, Sie für tot hielt. Dann haben Sie losgelegt. Züge in die Luft gesprengt, mit Kindern darin, die zur Landverschickung unterwegs waren. Kriegsrelevante Informationen beschafft und weitergeleitet. Anfangs über eine Deckadresse in Portugal, dann über die spanische Botschaft in London. Die Diplomatenkoffer, die von Kurieren außer Landes gebracht wurden, da kamen Sie sich schlau vor, was?«
    »Sie wissen gar nichts.«
    »O doch, ich weiß eine Menge. Die Koffer waren unsicher geworden, weil wir Ihnen auf die Schliche gekommen sind. Deshalb sind Sie aufs Funken umgestiegen. Aber auch dabei habe ich Sie erwischt.«
    Sie wippte mit dem Fuß. Die Bewegung ihrer Augen zeigte, dass sie sich an etwas erinnerte.
    »Hatten Sie in den letzten fünf Tagen Kontakt mit Ihrem deutschen Führungsoffizier oder einem anderen Agenten der Abwehr?«
    Das Wippen verebbte. Da war wieder dieses überlegene Lächeln, wie damals im Hausflur. »Was, wenn ich aus einem ganz anderen Grund keinen Fluchtversuch unternommen habe?«
    »Und welcher sollte das sein?«
    »Um meinem Partner Zeit zu verschaffen. Ich binde Ihre Kräfte durch die vielen Verhöre, während er das Material über Schwadron X vervollständigt und es an die Abwehr weitergibt.«
    Die Schwadronsbezeichnung. Sie wusste etwas. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl ihm der Schrecken durch alle Knochen fuhr. Um sie abzulenken, holte er den Minox-Fotoapparat heraus und legte ihn auf den Tisch. »Das Material war

Weitere Kostenlose Bücher