Nachtauge
reinigen: lüften und das Bett machen, Schale und Waschtisch säubern, den Fußboden sprengen und kehren, den Holzbestand auffüllen, Staub wischen. Tagsüber immer wieder den Aschenbecher ausleeren, Stühle zurechtstellen, die Wasserkannen auswaschen, damit sich kein Kalk ansetzt, die Wäsche waschen, Zigarettenstummel vor dem Bunker entfernen. Abends das Bett aufdecken und eine neue Kerze besorgen und erneut gut heizen. Hausschuhe bereitstellen für den Offizier!
Die wahren Helden des Lebens, dachte er wehmütig, sind die, die keiner wahrnimmt. Die Krämerin, die jeden Tag hinter dem Tresen steht. Der Krankenkontrolleur, der für einen Hungerlohn von einem Haus zum nächsten läuft, um zu prüfen, ob die Fabrikarbeiter, die sich krankgemeldet haben, auch wirklich krank sind. Der Schutzpolizist am Straßenrand. Und der Blockwart, den keiner leiden kann, aber ohne den die Ordnung zusammenbrechen würde. Wir halten das Großdeutsche Reich am Leben.
Die Schmarotzer würden noch sehen, was sie mit ihnen machten, wenn der Krieg nur erst gewonnen war. Dann kehrten die Frontsoldaten zurück und würden ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Danke, dass du uns in der Heimat den Rücken freigehalten hast.« Und den Schmarotzern würden sie die Fresse polieren.
Er stutzte. Die Jungs dort waren unmöglich achtzehn! Er überquerte die Straße und schlug dem Ersten die Zigarette aus der Hand. Der Zweite zuckte zurück und wollte seine Zigarette unauffällig fallen lassen.
Ulrich sagte streng: »Wie alt seid ihr?«
»Neunzehn«, log der Erste.
Der Zweite schwieg.
»Das finden wir schnell heraus. Ist das etwa Bier in der Flasche?«
»Die sollte ich nur für Vater runter in den Keller bringen.« Der Junge wurde rot.
»Alkoholgenuss«, schimpfte er, »ist für Jugendliche unter achtzehn Jahren verboten! Und ihr seid bestimmt nicht mal sechzehn!«
Eine Frauenstimme sagte: »Ulrich, kann ich dich sprechen?«
Er drehte sich um. Trude Schadewaldt aus dem Barthold-Cloer-Weg. Der Kragen ihrer Bluse saß schief, und sie hatte Kuhaugen. In seiner Kindheit war die größte Beleidigung gewesen, die man einem Jungen anhängen konnte, etwas zu sagen wie: Trude und Ulrich, ein verliebtes Schmuse paar! Daraufhin konnte man dem Spötter nur ein blaues Auge verpassen, alles andere wäre zu wenig gewesen, um das üble Gerücht zu ersticken. Überhaupt schon mit ihr gesehen zu werden, war eine Niederlage. Man mied sie nach Möglichkeit.
Auch als Erwachsener fürchtete er die belustigten Bli cke aus den Fenstern der umliegenden Häuser. Trude war seltsam, und so etwas sprang schnell auf einen über, wenn man nicht aufpasste. »Du siehst doch, ich hab keine Zeit«, sagte er deshalb barsch.
»Nur einen Moment.«
Ihre Zähne standen schief. Sie roch säuerlich aus dem Mund, nach altem Käse. Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich bin im Dienst und habe wichtige Aufgaben.« Er ließ sie stehen. Die Jungs verdufteten gerade um die Hausecke. Mit strammem Schritt setzte er ihnen nach.
Das weiße Kleid saß Eva eng am schlanken Körper. Die langen blonden Haare glänzten golden. »Du bist müde von der Arbeit, ich weiß«, empfing sie ihn vor dem Café Grewe. »Und im Café ist es dir zu laut, stimmt’s? Ich hab mir was anderes einfallen lassen. Komm!« Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit.
Auf dem Weg durch die Stadt erntete sie die bewundernden Blicke der Männer, aber sie tat, als bemerkte sie nichts. Eva war es gewohnt, angeschwärmt zu werden. Vielleicht reizte sie gerade das an ihm, dass er sie abwies, vielleicht würde sie ihn nur so lange bearbeiten, bis er sich wieder in sie verguckt hatte, und dann erneut eine Affäre mit einem anderen beginnen. Sie konnte nicht begreifen, dass er ihr widerstand. So musste es sein. Und wie sollte sie auch! Sie war ja Nadjeschka nie begegnet.
Als sie die Adolf-Hitler-Straße hinunterspazierten, dachte er: Wie geschickt die Partei doch vorgeht! Früher war es unüblich gewesen, eine Straße nach einem noch lebenden Menschen zu benennen. Inzwischen brachten sie ihre Helden überall unter. Vor zwei Jahren, als man Neheim mit dem Nachbarort Hüsten zusammengelegt hatte, waren in Neheim sechsund zwanzig Straßen umbenannt worden, zum einen, weil es Dopplungen gab, aber auch, um Parteileute reinzubringen. Die Hermann-Göring-Straße, das war noch so ein Lebender, der sich im Straßennamen verewigte. Und die klassischen Helden der Nationalsozialisten mussten sein, die Bismarckstraße, die
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