Nachtauge
allein geradestehen. Bei einer Auszeichnung wäre er natürlich zur Stelle gewesen. »Geben Sie mir noch eine Woche, Herr Kriminaldirektor.«
»Sie haben drei Tage. Dann will ich ihn hängen sehen. Und jetzt raus mit Ihnen, fangen Sie endlich an zu arbeiten! Während Leute wie Sie es sich bequem machen, kämpfen wir anderen den totalen Krieg. Da sehe ich nicht länger zu. Ich dulde keine Charakterlosen in meiner Staatspolizeileitstelle! Heil Hitler!«
»Heil Hitler!« Ihm schwindelte. Er taumelte die Treppe hinunter, fand mit Mühe sein Büro. Er setzte sich, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Es sah nicht gut aus für ihn. Überhaupt nicht gut.
Er rief: »Hans!«
Keine Antwort.
»Hans!«, donnerte er.
Eine Sekretärin steckte den Kopf durch die Tür und sagte: »Hans Krick hat um die Versetzung gebeten, er arbeitet jetzt Kriminalinspektor Pankow zu.«
Soso. Der ehrgeizige Emporkömmling hatte festgestellt, dass er an seiner Seite nicht weit kommen würde, und sich zum bissigen Pankow versetzen lassen. Die Ratten verließen das sinkende Schiff. Glaubte hier jeder, dass er verloren war?
Seine Kehle zog sich zu. Mühevoll rang er nach Luft. Er dachte: Wenn jetzt auch noch rauskommt, dass mein Schwager eine Ostarbeiterin versteckt, bin ich geliefert.
Er war zu weich gewesen, viel zu weich. Er musste die Sache beenden, reinen Tisch machen. Und sich dann mit aller Kraft dem Partisanen widmen. Wem schadete Georg denn mit seiner Morallosigkeit? Der eigenen Familie. Da sollte es auch die Familie sein, die ihn ausstieß.
Er würde seinen Ruf als knallharter Beamter zurückgewinnen. Kriminaldirektor Kreuter hörte sicher davon, eine Geschichte wie die, dass ein Lagerführer mit einer Ukrainerin angebandelt hatte, machte in der Steinwache schnell die Runde. Bald würde man auch erzählen, dass der eigene Schwager den Schandfleck ausgemerzt hatte.
Anneliese musste er glauben machen, dass Eva ihn aus Enttäuschung und Wut verraten hatte. Und wenn sie doch von seiner Beteiligung hörte, würde er ihr sagen, dass die Gefahr bestanden habe, dass sie beide stürzten, und was wäre aus Georg geworden ohne seinen Schutzpatron bei der Gestapo? Ja, das war eine befriedigende Lösung.
Er hob den Telefonhörer ab und wählte. »Rottländer, im Hause. Ich brauche ein Greifkommando für heute Nacht.«
»Die Post, Herr Lagerführer.«
Georg stand vom Schreibtisch auf und nahm dem Briefboten die Post ab. »Danke.«
Er setzte sich wieder und öffnete einen Brief vom Marienhospital in Arnsberg. Hatte seine Beschwerde etwas bewirkt? Er las:
Sehr geehrter Herr Hartmann,
Ostarbeiter zahlen zwar einen Pauschalbetrag von 2 RM an die kassenärztliche Vereinigung und an die Ortskrankenkasse, sie sind aber nicht krankenversichert, sondern krankenversorgt. Ihnen stehen Baracken auf dem Krankenhausgelände zur Verfügung. In Ihrem Fall waren die Ostarbeiterinnen durch ihre Erkrankung nicht mehr arbeitsfähig und es war mit einer kurzfristigen Besserung nicht zu rechnen. Daher lohnte sich die Behandlung nicht, und wir haben sie zum Sterben in Ihr Lager zurückgeschickt. Das entspricht der gängigen Praxis. Alternativ können die unheilbar kranken Frauen auch in ihre Herkunftsländer verschickt werden.
Er dachte an die verstorbenen Frauen, ihre angeschwollenen Gesichter und wie sie sich im Fieber hin und her geworfen hatten. Fleckfieber war nicht unheilbar. Aber offenbar fand man, dass Ostarbeiterinnen die Mühe nicht wert waren.
Von draußen hörte er Plöger wütend rufen: »Wo hast du das her? Antworte!«
Ein Kind schrie vor Angst. Schläge knallten.
Er lief zur Tür. »Lassen Sie den Jungen in Ruhe!«, rief er.
Plöger ließ von dem kleinen Bündel Mensch ab, das vor ihm im Dreck lag. »Der Bursche hat sich Reifengummi unter die Schuhsohlen gebunden. Das muss er doch irgendwo herhaben! Was, wenn er draußen in der Stadt Autoreifen zersticht?«
Georg bückte sich und half dem Kind auf. »Komm, ich bring dich in dein Zimmer.« Die Schuhe nahm er Plöger ab. Der Junge humpelte. Er schluchzte herzerweichend. Die Mutter des Kindes würde erst am Abend heimkehren, müde von der Fabrikarbeit. Es war niemand da, der seine Tränen trocknete.
Und ich, dachte er, ich helfe mit, diesen furchtbaren Ort am Laufen zu halten. Ich bin verantwortlich für all das hier.
Im Flur der Baracke fragte er ihn: »Woher hast du die Gummistücke?«
Der Junge wimmerte zwischen den Schluchzern: »Da lag ein
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