Nachtauge
schon war sie bei ihm. Etwas dünnes Langes blitzte in ihren Händen auf, sie versuchte hinter ihn zu gelangen, ein Draht schloss sich um seinen Hals, er konnte gerade noch die Waffe hochreißen. Mit dem Lauf des Revolvers hielt er sich den Draht von der Kehle fern. Die verletzte Schulter pochte, und das kalte Metall des Revolvers wurde vom Draht immer enger an den Hals gepresst. Rechts und links schnitt er ihm bereits in die Haut. Er gab einen erstickten Laut von sich. Wenn sich jetzt ein Schuss löste, würde ihm seine eigene Kugel von unten durch den Rachen in sein Gehirn jagen.
»Die Hände hinter den Kopf!«, donnerte es von der Tür her.
Gott sei Dank, dachte er, die Wachen sind nicht bestochen.
Nachtauge ließ den Draht los, hob ihre Hände. Sie hätte schneller sein müssen. Ohne diesen verfluchten Schlafmangel läge Eric Knowlden jetzt tot am Boden, und sie würde seine Waffe auf die zwei Männer richten, die vor der Tür der Zelle standen.
Während des Trainings hatte sie mit zehn anderen in einem Raum gestanden, der Ausbilder verwickelte sie in ein Gespräch, und dann sagte er plötzlich eine Zahl, ohne Vorwarnung. Sie warf sich auf den Boden und schoss auf die menschenförmige Zielscheibe mit der genannten Nummer, sechs Schüsse in Zweierpaaren. Keiner hatte die ersten Schüsse so rasch abfeuern können wie sie. Sie war gut gewesen, die Beste. Wurde deshalb von Canaris, dem Chef der Abwehr, eingeladen in sein Haus in der Dianastraße 17, Berlin-Schlachtensee.
Sie zitterte wegen des Adrenalins und des Schlafmangels. Ich hätte schneller sein müssen, dachte sie.
Eric Knowlden sah vom Draht zum Fenster hinauf. Noch während er sich den blutenden Hals hielt, stieg er auf das Bett und fand die Stange, die sie zur Hälfte durchgesägt hatte. Er war blass. »Sie sind gut«, sagte er. »Aber nicht gut genug.«
34
Die Mischung aus Sorge und Verärgerung in Annelieses Gesicht ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie wusste, weshalb er verschlafen hatte. Sie brauchte es ihm nicht vorzuwerfen, und er versuchte nicht, es abzustreiten. Er hatte gestern Luminal genommen, und zwar eine so gehörige Dosis, dass er sich selbst jetzt, nach dem Aufwachen, noch schlapp und müde fühlte. »Dein Bruder treibt mich in den Wahnsinn«, sagte er, während er die bleiernen Füße über die Bettkante hob und sich vom Bett wälzte. Er hätte letztes Wochenende im Schwimmbad einen Schlussstrich ziehen sollen ohne Wenn und Aber. »Bring mir bitte Socken, eine frische Unterhose und das Hemd von gestern.«
»Hab ich alles schon hier, mach die Augen auf!«, sagte sie und hielt ihm ein Bündel Kleider hin. »Georg kann wohl kaum als Entschuldigung dafür herhalten, dass du tablettensüchtig bist, Axel.«
»Wenn du wüsstest, was dein feiner Bruder so anstellt.« Er zog sich die Socken mühselig über die schweißigen Füße.
»Den Zug kurz nach sieben schaffst du nicht mehr.«
Lag da ein Hauch von Schadenfreude in ihrer Stimme? Er hätte den schwarzen Mercedes genommen, wenn nicht die Benzinzuteilung bereits jetzt, Mitte des Monats, nahezu aufgebraucht gewesen wäre. Und vielleicht brauchten sie den Wagen ja noch für Festnahmen. Er wollte dem Kriminal direktor nicht zusätzlich zu seinen Verspätungen noch erklären müssen, warum er Delinquenten mit der Eisenbahn brachte statt mit dem Dienstwagen. »Dann nehme ich den Zug eine Minute vor acht.«
Durch die längere Umsteigezeit in Schwerte würde er mehr als eine Stunde zu spät kommen. Er würde erst halb zehn im Büro sein. Fahrig schlüpfte er in das Hemd. Er schloss, um Zeit zu sparen, nur jeden zweiten Knopf. Die Nähte der Hose knackten, als er sie sich über das Gesäß zog. »Es ist Samstag. Sie werden mir schon nicht den Kopf abreißen.«
»Hoffen wir es. Ich hab dir ein Brot gemacht.«
»Mir wäre lieber gewesen, du hättest mich geweckt.« Gleich nachdem er es gesagt hatte, wurde ihm bewusst, dass er zu weit gegangen war.
Anneliese wurde weiß um die Nase. »Ich habe dich geweckt, und zwar sieben Mal! Aber du bist ja nicht wachzukriegen, wenn du diese Droge in dir hast. Wir hatten eine Vereinbarung! Du hast mir versprochen, das Zeug nicht mehr zu nehmen.«
»Ist ja gut, reg dich nicht auf. Ich hab das im Griff.« Der Kopf dröhnte ihm, und die Augen brannten. Er brauchte Kaffee. Vielleicht war im Büro noch etwas echter Bohnenkaffee aufzutreiben.
Heute gab er Anneliese keinen Kuss, als er die Wohnung verließ. Er hätte auch nicht gewusst, wie sie
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