Nachtauge
reagiert hätte auf den Versuch einer Zärtlichkeit. Vielleicht hätte sie den Kopf weggedreht, das hätte ihn verärgert und wäre im Übrigen auch völlig unangemessen – er nahm mal ein paar Schlaftabletten, was war schon dabei? Sollte sie sich ruhig grämen, weil er sich nicht verabschiedet hatte. Dann tat es ihr leid, wie sie ihn beschimpft hatte.
Um Geld zu sparen, fuhr er dritter Klasse. Luminal war teuer in Dortmund. In Neheim bekam er diesen Monat nichts mehr, in der Apotheke in der Adolf-Hitler-Straße war er erst kürzlich gewesen, da musste er mit dem nächsten Einkauf bis zum Juni warten, und in die Westfalen-Apotheke wagte er sich überhaupt nicht mehr, der Apotheker sah ihn jedes Mal so tadelnd an. Irgendwann würde der Kerl Meldung machen. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen.
Kühl war es in Schwerte am Bahnsteig. Axel rieb sich die Oberarme. Er musste über eine Viertelstunde auf den Anschluss nach Dortmund warten. Ein langer Zug der Wehrmacht fuhr durch, er war so vollgepackt, dass die Soldaten in den Abteilen standen.
Endlich schnaufte seine Bahn ein. Quietschend kam sie zum Halt. Er stieg ein und suchte sich einen Platz. Der Zug war viel leerer als der frühe Zug, den er sonst nahm. Nach einer knappen halben Stunde Fahrt hatten sie Dortmund erreicht, der Zug schlich in den Bahnhof, als führe er auf rohen Eiern. Die Schäden des heftigen Bombenangriffs vor zehn Tagen waren bisher nur provisorisch instand gesetzt worden. Auch jetzt noch arbeiteten sie mit großen Stemmeisen, mit Flaschenzügen und Holzgerüsten an den Gleisen. Auf den schmalen, frei geräumten Wegen drängelten sich die Passagiere. Vor ihm ging eine dicke Frau, als ihm der Geduldsfaden riss, drängte er sich mit zwei Ellenbogenstößen an ihr vorbei.
Er eilte in die Steinstraße. An der Pforte brummte der Diensthabende: »Kreuter will Sie sehen.« Axel sank das Herz. Wenn der Kriminaldirektor sich die Mühe machte, beim Pförtner nach ihm zu fragen, stand es nicht gut.
Er brauchte eine plausible Entschuldigung für seine Verspätung. Im Treppenhaus überlegte er, was er sagen würde. Kreuters Vorzimmerdame war offenbar schon informiert, sie winkte ihn stumm zum Vorgesetzten durch.
Der Kriminaldirektor und SS -Sturmbannführer sah nicht einmal von seiner Arbeit auf. »Na, Rottländer, bequemen Sie sich auch mal her?«
»Meine Tochter, Herr Kriminaldirektor, sie hat Scharlach.«
»In letzter Zeit scheint sie oft krank zu sein.«
Kreuter hatte seine unvorteilhafte Gestalt in eine enge Uniform gezwängt. Man glaubte kaum, dass er westdeutscher Meister im Tischtennis war. Axel versprach: »Das wird wieder besser werden, Herr Kriminaldirektor.«
»Schauen Sie bitte einmal aus dem Fenster.«
Ein Blick reichte, um festzustellen, wie schlimm es Dortmund getroffen hatte: Von etlichen Häusern standen nur noch die Mau erstümpfe. Dazwischen schufteten Zwangsarbeiterkolonnen.
»Was sehen Sie?«
»Den Bahnhof, Herr Kriminaldirektor.«
»Nein. Sie sehen den Krieg!«
»Ja, Herr Kriminaldirektor.«
»Das richten unsere Feinde bei uns an, während Sie am Bettchen ihrer Tochter sitzen. Haben Sie keine Frau, die sich um die Kinder kümmert?«
»Doch, Herr Kriminaldirektor.«
»Kennen Sie dieses Lied?« Kreuter sang, etwas schief: »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai. Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. Doch zwei, die sich lieben, die bleiben sich treu.«
»Das ist der berühmte Schlager von Lale Andersen.« Vielleicht kam er mit einer Ermahnung davon. Immerhin hatte Kreuter die Lüge von Lillis Scharlach geschluckt. Und jetzt sang er sogar.
Unerwartet schlug der Kriminaldirektor mit der flachen Hand auf den Tisch und brüllte: »Und jetzt sehen Sie sich diesen verruchten Zettel an!«
Auf dem Schreibtisch lag ein kleines Blättchen. Sofort erkannte er die Machart, es musste vom Streichholzschachtelpartisan sein. Darauf stand:
Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, erst geht der Führer und dann die Partei.
»Das ist ja ungeheuerlich«, stammelte er. »So etwas zu wagen …«
Kreuter schrie: »Das ist Ihr Fall! Warum ist der Kerl noch nicht geschnappt? Sie jagen ihn jetzt seit vier Wochen. Überall taucht seine Lügenpropaganda auf, die Leute reden zu Hunderten davon!«
»Wir sind ihm dicht auf den Fersen, Herr Kriminaldirektor. Wir …«
»Dann schnappen Sie ihn endlich!«
Seltsam, dass ausgerechnet jetzt Hans nicht da war. Für den Misserfolg musste er
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