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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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werden noch mehr bringen, wenn erst mal alle an Land geschwemmt worden sind.
    Die Wahrscheinlichkeit, Georg und Nadjeschka jetzt schon hier zu finden, war nicht groß. Andererseits verspürte er keine Lust, zwei Menschen zu jagen, die längst nicht mehr vor ihm davonrannten.
    Er begann seinen Weg entlang der Reihe. Viele Gesichter waren zerstoßen, die Körper verrenkt. Deshalb hatten die Leute immer so genau hingesehen. Es war gar nicht leicht, die Toten zu identifizieren. War dieser da nicht Ulrich Wiese, der Blockwart? Von der Statur her passte es, und was vom Gesicht übrig geblieben war, bestätigte den Verdacht.
    Eigentlich hatte er sich für hart im Nehmen gehalten. Mit dem Stock zuzuschlagen, um in der Steinwache seine »Schäfchen« zum Reden zu bringen, stellte ein gewisses Training dar. Trotzdem berührte ihn der Anblick dieser vielen Toten. Kinder waren darunter, die heute am Muttertag ihrer Mama Blumen gepflückt hätten. Stattdessen lagen sie tot nebeneinander, Mutter und Kind.
    Die Männer waren ihm egal. So viele starben an der Front, da war das Ertrinken eher ein leichtes Los.
    Wieder war da eine Mutter mit zwei Kindern, eine Frau, die ihn besonders berührte, weil sie Anneliese ähnlich sah. Er taumelte. Es war Anneliese. Er stützte sich an der Kirchenbank ab, wollte sich wegwenden, wollte gehen, raus aus dieser Kirche, und konnte doch den Blick nicht von der Toten nehmen. Neben ihr, im weißen Nachthemd, lag Lilli und auf der anderen Seite Siegfried. Sein Junge, sein ganzer Stolz.
    Ich war nicht da, dachte er. Sie sind ertrunken, und ich war nicht da, um sie zu retten.
    Georg duckte sich. »Bleib unten«, raunte er Nadjeschka zu. »Vielleicht fahren sie vorüber.«
    Aber das Gebrumm des Motors kam näher, und man hörte das Klatschen der Wellen gegen den Bug des Militärschlauchboots. Dann verlangsamte es seine Fahrt, und eine feste Stimme rief: »Kommen Sie zum Rand des Dachs, wir helfen Ihnen!«
    Er überlegte kurz, ob er ins Wasser springen und versuchen sollte zu entkommen, doch das war irrwitzig, wie sollte er schneller schwimmen als das Boot? Er richtete sich auf und half auch Nadjeschka hoch.
    Man reichte ihnen die Hand, und sie stiegen ins Schlauchboot. Dort saßen bereits mehrere frierende Menschen, eingewickelt in Decken der Wehrmacht. Die Soldaten, die das Boot steuerten, trugen keine Gewehre. Einer von ihnen fragte: »Wo sind Sie her?«
    »Aus Neheim«, sagte er.
    »Und das war Ihr Haus?« Der Soldat zeigte auf die Reste vom Dach.
    »Ja«, log er.
    Das genügte dem Soldaten. Er fragte nicht nach Papieren. Ihr Schicksal war nur eines von Tausenden in dieser Nacht. Die Soldaten stießen das Boot vom Dach ab und fuhren in weitem Bogen über die Wasserfläche.
    Der Wind trieb ihm Tränen in die Augen. Er blinzelte. Wie es aussah, floss das Wasser allmählich ab. Es würde noch Tage dauern, aber am Ufer sah man schon ein Gewirr aus verbogenen Bahngleisen und Güterwaggons, sogar eine Lok lag da. Tangverschmierte Äste hingen in den Rädern.
    Je näher sie Neheim kamen, desto unruhiger wurde er beim Anblick der wasserbedeckten Weite. »Was ist mit dem Barackenlager passiert?«, fragte er schließlich.
    Die jungen Soldaten zuckten die Achseln.
    Die Frauen, für die er Verantwortung getragen hatte, waren von der Flut in den Tod gespült worden. Er sah zu Nadjeschka hinüber. Auch ihr Blick irrte über das Wasser, und ihre Mundwinkel bebten.
    Von der Villa des Lampenfabrikanten Kaiser stand nur noch ein Rest wie ein hohler Zahn, man sah in die Zimmer hinein auf drei Etagen. Am Ufer, wo die Soldaten sie absetzten, gab es eine Speisung aus der Gulaschkanone. Jungs der Hitlerjugend verteilten Schüsseln mit Suppe. Er sah sich ängstlich um, doch kein bekanntes Gesicht war darunter. Also stellte er sich an.
    Dann saß er mit Nadjeschka auf einem Geröllhaufen und trank in langsamen Schlucken die Suppe.
    »Die Schüsseln verstecken wir, und diesmal stellst du dich an«, sagte er leise. »Das ist unsere letzte warme Mahlzeit in der Zivilisation.«

39
    Ja, da kamen sie wie die Fliegen zum faulenden Fleisch, sie schwärmten um die zerstörte Talsperre, wollten gaffen und sich an der Zerstörung weiden. Axel riss einem Mann die Fotokamera aus der Hand und warf sie mit solcher Wucht zu Boden, dass sie zersplitterte. »Ich könnte Sie auf der Stelle festnehmen«, schrie er ihn an, »unter dem Verdacht der Spionage!«
    Kriminaldirektor Kreuter war sehr deutlich gewesen. Fotos konnten an die ausländische

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