Nachtauge
Presse gelangen, und dann würden sie die Titelseiten der Tageszeitungen zieren, um millionenfach die Niederlage der Deutschen zu feiern. Schlimmer noch, wenn die Alliierten Flugblätter damit bedrucken und sie über Deutschland abwarfen. Das würde einen vernichtenden Eindruck auf die Bevölkerung machen.
»Wie sind Sie überhaupt in die Sperrzone gelangt?«
Der Mann stotterte: »Ich weiß nicht, wir …« Er sah sich verlegen nach seiner Frau um.
»Verschwinden Sie. Kein Wort zu irgendjemandem! Wenn wir Sie dabei erwischen, dass Sie rumerzählen, was Sie hier gesehen haben, klingelt die Gestapo bei Ihnen, haben Sie mich verstanden?«
Dem Mann schoss das Blut ins Gesicht. »Ja, natürlich.« Mit einem ängstlich hingeworfenen »Heil Hitler« verabschiedete er sich und zog mit seiner Frau davon.
Sie waren zu wenige, um das gesamte Gebiet abzuriegeln. Zumal ein größeres Aufgebot nach einem Briten suchte, der aus dem brennenden Flugzeug hatte entkommen können. Und dann noch der Besuch des Rüstungsministers!
Schutzpolizisten, Gestapomitarbeiter und Wachmannschaf ten, selbst Angehörige der Stadtverwaltung und kleinere Parteibeamte waren ausgerückt, dazu die Pioniere, die das Leid der Bevölkerung lindern helfen sollten, und die Mitglieder der Hitlerjugend.
Wobei er vor einer halben Stunde einen Jungen dabei erwischt hatte, wie er versuchte, den Abhang neben der Talsperre hinunterzuklettern – auch der vermeintlich linientreue Nachwuchs war der Sensationsgier erlegen.
»Kriminalinspektor Rottländer? Herr Minister Speer möchte Sie sprechen.« Ein junger SS -Unterscharführer sah zu ihm auf.
»Sind Sie sicher, dass er mich meint? Das muss eine Verwechslung sein.«
»Nein, Herr Kriminalinspektor. Sie sollen zu ihm kommen.«
Beklommen folgte er dem Unterscharführer zur Talsperre. Neben der Mauer parkte ein Dutzend dunkler Wagen. Ihre Fahrer standen neben den Autos und rauchten.
Vorn, am Rand der Staumauer, sah Axel den Minister, umgeben von ranghohen Parteimitgliedern und den Regierungsverantwortlichen des Bezirks Arnsberg. Etliche Männer kannte Axel nicht, sie mussten zum Ruhrtalsperrenverein gehören oder aus Berlin gekommen sein.
Als sie sich der Traube näherten, sah er, wie Kriminaldirek tor Kreuter dem Minister etwas zuraunte. Gleich drehte Speer sich um und sah ihn, Axel, an. »Ah, da sind Sie.« Er ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Ich wollte gern Ihre Bekanntschaft machen.«
Verdattert ließ er sich die Hand schütteln. Der Griff des Ministers war fest und warm.
»Mein Beileid zum Verlust Ihrer Familie.« Minister Speer drehte sich zu den Parteigrößen um. »Meine Herren, Sie sehen hier den deutschen Kampfeswillen und Diensteifer, wie ich ihn mir wünsche. Herr …«
»Rottländer«, ergänzte Kriminaldirektor Kreuter.
»Herr Rottländer hat vergangene Nacht bei der Flutkatastrophe seine Frau und seine beiden Kinder verloren. Und trotzdem steht er heute seinen Mann in der gegenwärtigen Krisenlage. Wenn alle Deutschen so eingestellt wären wie er, hätten wir den Krieg bereits gewonnen.«
Scham und Stolz rangen in ihm miteinander. Er bedankte sich und verschluckte sich bei den wenigen Worten, die er sagen wollte: »Ich bin … äh … geehrt, Herr Minister Speer, ich …«
Aber schon hatte sich Albert Speer abgewandt und betrat, gefolgt von der Menschentraube, die Staumauer. Ein Loch von der Größe mehrerer Häuser klaffte darin, und immer noch floss Wasser aus dem Stausee ins Tal.
»Kommen Sie«, zischte Kreuter. »So eine Gelegenheit kriegen Sie nie wieder.« Er nahm Axel an seine Seite. »Sie sind zurzeit mein bester Mitarbeiter, Rottländer. Ich werde Sie fördern, aus Ihnen wird noch was!«
Albert Speer sagte: »Wir brauchen zusätzliche Flak für alle deutschen Staudämme. Und zwar bis heute Abend.«
Zwei Mitarbeiter notierten sich das.
Speer ging näher an das Loch heran. Er schien nachzudenken. Niemand wagte es, ihn dabei zu unterbrechen. »Sie wollen mich treffen«, sagte er, »mich und die deutsche Rüstungsindustrie. Da haben sie mir auf eindrucksvolle Weise den Fehdehandschuh hingeworfen. Die Fabriken des Ruhrgebiets sind den Alliierten ja schon lange ein Dorn im Auge. Ihnen allerdings auf so kluge Weise den Strom abzudrehen, das ist wirklich ein Husarenstück. Eine Herausforderung für uns, meine Herren. Wir werden sie meistern.« Er wandte sich an seine Mitarbeiter. »Zwanzigtausend Arbeiter der Organisation Todt vom Atlantikwall abziehen. In Sonderzügen
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