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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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hierher schaffen. Zeltstädte errichten. Ich will, dass der Staudamm in achtzig Tagen wieder steht und Strom liefert.«
    Vor Verblüffung stießen einige der Herren hörbar die Luft aus. Jemand fragte: »Verzeihung, Herr Minister, wie wollen Sie das möglich machen?«
    Speer schob energisch das Kinn vor. »Die Möhnetalsperre ist ein Symbol geworden für unseren Sieg oder unsere Niederlage. Die Alliierten glauben, sie haben uns für Jahre lahmgelegt. Aber sie werden sich täuschen.«
    Kriminaldirektor Kreuter sagte: »Sie sind ein Genie, Herr Minister Speer.«
    Unbeirrt diktierte der weiter an die Sekretäre: »Ich will, dass bis morgen Abend bereits siebentausend Facharbeiter auf dem Weg hierher sind. Brücken und Eisenbahnlinien sind zu reparieren. Mit dem Staudamm ist parallel dazu und unverzüglich anzufangen. Innerhalb einer Woche sollen die zwanzigtausend Arbeiter der Organisation Todt folgen.«
    Axels Ehrfurcht vor Albert Speer wurde größer und größer. Wie er die Dinge anpackte! Wie sachlich und besonnen er mit der Katastrophe umging! Dieser Mann sprach, und die Massen setzten sich in Bewegung. Er war ein Gott, der Brücken und Festungen und Dämme erschuf.
    Von ihm muss ich lernen, dachte Axel. Dann wird wirklich noch was aus mir. Jetzt, wo ich ohne Familie bin, muss ich mich richtig in die Arbeit stürzen, so wie Minister Speer.
    »Trinkwasser wird ein Problem werden«, sagte Speer. »Die Leute können das Wasser aus der Leitung nicht trinken, die toten Tiere verseuchen uns die Wasserreservoirs. Lassen Sie überall in der Region Schilder aufstellen mit der Warnung vor Seuchengefahr und dem Hinweis, nur abgekochtes Wasser zu trinken.« Er blieb vor einem zerschossenen, verbogenen Flugabwehrgeschütz stehen. »Der Führer kocht vor Wut über die Unfähigkeit der Luftwaffe in der letzten Nacht. Warum wurden die Bomber nicht von Nachtjägern aufgehalten?«
    »Sie flogen sehr niedrig, Herr Minister«, erklärte der Landrat kleinlaut.
    »Aha, und unsere Nachtjäger flogen sehr hoch.«
    »So ist es, Herr Minister. Üblich ist eine Flughöhe von mehreren tausend Metern. Die Bomber jedoch flogen dicht über dem Boden.«
    »Hat sie das nicht verwundbar für die Flak gemacht?«
    »Dieses Risiko haben sie auf sich genommen.«
    Speer beharrte. »Der Flughafen Werl hat schließlich Nachtjäger! Warum wurden keine angefordert, als die Bomber anfingen, die Talsperre anzugreifen?«
    »Ich weiß es nicht, Herr Minister.« Der Landrat errötete. »Ich nehme an, die Telefonleitungen waren defekt.«
    »Kommen Sie mir nicht mit Lügen. Die Telefonleitungen wurden erst beschädigt, nachdem die Talsperre gebrochen war und Wasser ins Tal stürzte.«
    Betretenes Schweigen herrschte unter den Männern.
    »Schadensmeldung?«, fragte Albert Speer.
    »Hier in Neheim?« Erleichtert referierte der Landrat: »Knapp zweihundert Häuser sind beschädigt oder zerstört. Und einundzwanzig Betriebe und Fabriken.«
    »Todesfälle?«
    »Wir rechnen mit zweihundert Deutschen und etwa siebenhundert Fremdvölkischen.«
    Axel hörte nicht mehr zu. Das Lob von Rüstungsminister Speer verblasste, sein Diensteifer ermattete, er tappte blind der Menschentraube nach. Warum mussten drei von diesen Menschenopfern ausgerechnet Lilli, Siegfried und Anneliese sein? Warum traf es nicht andere? Ich hätte zu Hause sein müssen, dachte er, bei ihnen.
    Abends besaß er nicht mehr die Kraft, sich die Socken auszuziehen. Lange saß er mit einer Socke und aufgeknöpftem Hemd auf dem Bett und starrte ins Leere. Um Mitternacht schaffte er es endlich, sich den Schlafanzug anzuziehen und sich hinzulegen. Ihm fiel die versteckte Schachtel Luminal ein. Wie gern hätte er mit Anneliese gesprochen und ihr verraten, wo die Tabletten waren. Jedes andere seiner Geheimnisse würde er jetzt mit ihr geteilt haben. Er hätte ihr von Regina erzählt, die er einmal geküsst hatte, und ihr gestanden, dass er neulich Erdbeeren gekauft und sie allein aufgegessen hatte, ohne eine einzige davon nach Hause zu bringen. Wenn die Geheimnisse ausgesprochen waren, würden sie sich wieder nah sein wie damals kurz nach der Hochzeit. Sie würde sich an ihn schmiegen und ihn »mein großer Bär« nennen, und er würde ihr über den Lockenkopf streichen und sie küssen. Die Geheimnisse waren es gewesen, die sie trennten.
    Warum hab ich’s nicht getan, klagte er sich an. Es kam ihm so vor, als könnte Anneliese noch am Leben sein, wenn er nur ehrlicher mit ihr gewesen wäre. Er stand auf und

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