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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Sabotage ausmalen konnte. So lange ertrug sie wortlos das Treiben von Herrn Zack-zack-zack, bis es ihn schließlich langweilte. Er trollte sich zum anderen Ende der Halle und schrie dort eine Frau an.
    Zwischen zwei Pressprozeduren holte Nadjeschka einen der Löffel unter der Jacke hervor und legte ihn auf die Maschine. Schon war es knapp geworden, sie musste eilig die nächsten fünf Geschosse herüberheben, sie befüllen, pressen.
    Das Förderband stoppte. Das Geschrei am anderen Ende der Halle wurde ärger, er hatte es offenbar geschafft, die Frau aus dem Rhythmus zu bringen, und nun bestrafte er sie dafür. Alle sahen hin, stumm vor Bestürzung, betäubt von diesem neuerlichen Ausbruch ungerechter Gewalt. Schließlich sammelten sich Gruppen, die deutschen Arbeiterinnen begannen Gespräche, und auch die Russinnen fingen an, sich kopfschüttelnd auszutauschen.
    Nadjeschka nahm den Löffel und ging zu einer Gruppe von Russinnen. Auf dem Weg ließ sie ihn in das Getriebe einer der stillstehenden Maschinen fallen. Der Löffel klimperte leise, als er zwischen den Zahnrädern landete. Sie stellte sich zu den Frauen.
    Eine von ihnen, Katja, wohnte bei ihr im Zimmer. Sie sprach mit Moskauer Akzent und betonte die Vokale so sehr, dass sich die Worte wie Honigfäden zogen. »Warum tut der Meister nichts dagegen? Der Werkschutz ist schuld daran, dass das Band stillsteht!«
    »Mich hat er gestern auch geschlagen«, sagte sie, »mit einem Stock.«
    »Tut es sehr weh?«
    Nicht mehr, seit ich mich wehre, dachte sie. Laut sagte sie: »Wenn ich eine Ladung anhebe.«
    Katja legte ihr die Hand auf den Arm. »Du bist ein bisschen dünn, aber du hast ein starkes Herz. Dich kriegen sie so schnell nicht klein.« Sie sah sie aus freundlichen Augen an.
    »Guckt mal«, Agnenja wies nach hinten zur gequälten Frau, »der Meister ist da. Er regelt das mit Plöger.«
    »Glaub ich nicht.« Nadjeschka drehte sich um. Sie sah den Meister bei Plöger und der Geprügelten stehen und verärgert den Kopf schütteln. Das Weinen hörte auf. »Ihr müsst genau hinsehen. Er schimpft nicht mit Old Lederhand, sondern mit der Frau.«
    Sie rissen die Augen auf, weil sie gewagt hatte, Plöger Old Lederhand zu nennen.
    »Da, seht ihr?«
    Der Meister gab der Frau eine Ohrfeige. Dann stieß er sie wieder zum Förderband. Er steckte die Finger in den Mund und pfiff laut. Das Förderband rollte an. Panisch eilten die Frauen an ihre Plätze. Auf dem Weg holte Nadjeschka den zweiten Löffel heraus und steckte ihn durch den Lüftungsschlitz einer Maschine. Funken schlugen heraus, und es knallte.
    Als wäre nichts gewesen, stellte sie sich an das Förderband und stemmte ein Paket mit fünf Hülsen herüber. Es knallte erneut, Metall kreischte. Das Förderband hielt an, und der Meister rief durch die Halle: »Alles Stopp! Stellt die Maschinen ab!« Zwei Techniker rannten den Korridor zwischen den Maschinen entlang.
    Warum sah Plöger sie so an? Er hielt den Blick fest auf sie gerichtet. Hatte er etwa beobachtet, dass sie den Löffel in die Maschine gesteckt hatte? Ihr wurde der Gaumen trocken. Rasch wendete sie sich ab, wollte weiterarbeiten, aber es gab ja nichts zu tun, das Band stand still.
    An den zwei qualmenden Maschinen sammelten sich immer mehr Männer. Auch Plöger kam herüber und gesellte sich dazu. Die Männer öffneten Werkzeugkisten. Sie begannen an den Maschinen herumzuschrauben. »Sieht übel aus«, sagte einer der Techniker. »Ich muss etliche Teile austauschen.«
    »Wie lange wirst du brauchen?«, fragte der Meister.
    »Anderthalb Stunden.«
    Sie triumphierte innerlich. Wie viele Geschosse hätten sie in dieser Zeit produziert! Hunderte Schüsse würden nicht abgefeuert werden, weil sie sich den Deutschen entgegengestellt hatte.
    »Zwei Maschinen zur gleichen Zeit.« Der Meister schüttelte den Kopf. »Das glaub ich einfach nicht. Schaut sie euch genau an!«
    »Nicht nötig.« Das war die Stimme von Plöger. »Der lag unter der Maschine. Er ist noch heiß.«
    »Ein Löffel!«, stieß der Meister aus.
    Um nicht so nahe bei den Maschinen zu stehen und dadurch am Ende Verdacht auf sich zu lenken, ging sie zu Oksana, deren Aufgabe es war, fertige Munition in Kisten zu packen. Beim Gehen sah sie noch einmal zu den Maschinen. Der Wachmann mit der Lederhand hielt ein verbogenes, gesplittertes Stück Blech in die Höhe. »Sie wissen, was das bedeutet.«
    »Sabotage.«
    Plöger reichte dem Meister den Löffel. »Ich rufe die Gestapo.« Er entfernte

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