Nachtauge
Bitte, tu’s für mich.«
Axel blieb stehen. »Du solltest dich nicht so reinsteigern. Du bist Lagerführer! Sie müssen zu dir aufsehen wie zu einem Gott. Dazu gehören Distanz und Strenge. Das Väterliche ist kontraproduktiv, du bist jetzt kein Lehrer mehr. Womöglich stiftest du sie zu solchen Taten an, ohne es zu wollen. Die schwierigen Volkstumsfragen im Osten können nicht nach sentimentalen Erwägungen und mit romantischen Gefühlen angepackt werden. Das musst du dir immer wieder einhämmern. Das deutsche Volk kann sich gegen seine Feinde nur in der Härte bewähren.«
Warum sah ihn der zweite Gestapomann so misstrauisch an? Ich gerate selbst in Verdacht, warnte eine ängstliche Stimme in ihm. Doch er gab sich gefasst. »Nur noch ein Versuch, Axel. Bitte.«
Dieser Schwager mit seinen übertriebenen Idealen! Fiel ihm nicht auf, dass Hans ihnen zuhörte? Wenn er jetzt einknickte, stand er vor seinem Assistentenanwärter da wie eine Memme. Sabotierende Ostarbeiterinnen freizulassen, kam nicht infrage. Andererseits hatte Georg recht: Fanden sie die Schuldige, konnten sie die anderen Frauen zurück an die Arbeit schicken. »Also gut«, knurrte er, »alle vier passen sowieso nicht ins Auto.« Er befahl den Frauen stehen zu bleiben. Jeder einzelnen sah er ins Gesicht, schweigend. Da, die eine bebte unter seinem Blick wie unter Frostschütteln, blond und hochgewachsen war sie, beinahe arisch aussehend, wäre nicht die breite russische Nase gewesen. Er verharrte bei ihr, während sie immer ärger zitterte, ihr Blick flatterte vor Angst. »Willst du mir etwas sagen?«, fragte er.
Da brach sie vollends zusammen. Ihre Beine gaben nach, sie musste sich an seinem Arm festhalten. In russischer Sprache redete sie auf ihn ein, wahrscheinlich beteuerte sie ihre Unschuld, aber ihr Körper sprach das Geständnis.
»Die anderen können gehen. Los, haut ab!«
Die Frauen entfernten sich, eilten zurück in den Schutz der Fabrik.
»Du schuldest mir was, Georg«, sagte er. »Hast du noch vom Vorkriegswein? Bring am Sonntag eine Flasche mit. Dann spielen wir eine Partie Schach, ja?«
»Was wird aus ihr?«, fragte der Schwager.
Die Frau wurde immer lästiger. Sie ließ sich zu Boden fallen. Hans und er mussten ihr unter die Achseln greifen und sie zum Auto schleifen. Als Hans sie losließ, um die Autotür zu öffnen, streckte sie die Hand nach dem Laternenpfahl aus, neben dem sie geparkt hatten, und klammerte sich daran fest. Das Weibsstück entwickelte ungeahnte Kräfte. Obwohl er an ihr riss und zerrte, konnte Axel sie nicht zum Aufgeben bringen, immer wieder fasste sie nach. Schließlich zog er die Pis tole aus dem Halfter. Der kalte Lauf der Waffe an ihrer Schläfe würde sie zur Vernunft bringen. »Loslassen!«, befahl er.
Sie schrie und weinte, hielt sich trotzdem weiter fest.
»Ich hab gesagt loslassen!«
»Es ist doch gar nicht sicher, ob sie es war«, sagte Georg.
Hans brüllte von der anderen Seite: »Das ist versuchte Flucht, es ist unsere Pflicht, sie zu erschießen!«
»Eine Hinrichtung ohne Anklage und Verhandlung ist Mord«, sagte Georg.
Hans sagte: »So ein rebellisches Russenweib hab ich noch nie gesehen!« Er schlug auf ihren Kopf ein.
Die Frau schrie so fürchterlich, ihre hohe Stimme gellte in seinen Ohren. Axel fuhr sie an, den Mund zu halten, drückte ihr die Waffe fest an die Stirn, aber sie schrie immer ärger, weinte, bettelte in ihrer fremden Sprache. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Hans sich nach einem Stein bückte und anfing, der Frau den Stein auf die Hände zu schlagen, mit denen sie den Laternenpfahl umklammerten. Blut lief ihr an den Fingern herunter. Georg fiel Hans in den Arm und wollte ihm den Stein entwinden. Hans drohte ihm voller Empörung: »Das ist Behinderung der Staatsgewalt!« Die Frau schrie. Alles toste wild durch seinen Kopf, und dann war da ein rascher Blick von Hans, ein Aufflackern von Härte darin, ein grausames Lächeln über seine Schwachheit. Er durfte sich von dem nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, sonst tauschten sie bald die Ränge! Axel schoss.
Die Russin brach zusammen, rutschte am Laternenpfahl herunter. Endlich war es still.
Georg sah entsetzt auf den toten Körper.
»Was war denn los mit Ihnen?«, fragte Hans. »Warum haben Sie gezaudert?«
»Du Dummkopf«, sagte er, »wie soll ich denn schießen, Hans, wenn du über sie gebeugt stehst, wolltest du, dass der Schuss dich trifft? Die Kugel tritt auf der anderen Seite wieder aus dem Schädel aus, die
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