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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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mechanisch Oksanas Fragen. Sie hörte, wie die anderen darüber redeten, ob Katja tatsächlich die Löffel in die Maschinen gesteckt haben könnte. Die einen sagten, sie müsse sich gewehrt haben, sonst hätte man sie nicht erschossen. Wer sich gegen Gestapoleute zur Wehr setze, der habe auch den Mut, Maschinen zu sabotieren. Die anderen hielten dagegen, Katja sei schon so lange hier und habe nichts dergleichen getan, warum also jetzt, woher plötzlich der Entschluss, ihr Leben zu riskieren und gegen die Deutschen zu kämpfen?
    Endlich schalteten die Wärter das Licht aus. Nad jeschka lag da, mit offenen Augen, und starrte zur leeren Bettstelle hinüber, wo Katja geschlafen hatte. Die Frauen atmeten ruhig. Nadjeschka blieb wach.
    Sie holte den blau schimmernden Stein unter der Matratze hervor, stieg vom Bett, zog leise ihre Schuhe an. Sie schlich nach draußen. Bei Fluchtversuchen macht das Wachpersonal von der Schusswaffe Gebrauch. Sie ging auf das Tor zu.
    Das Tor ließ sich nicht öffnen, ein Vorhängeschloss glänzte im Mondschein. Seltsam, jetzt, wo vermutlich ein Mann auf sie anlegte vom Turm aus, jetzt, wo jeden Moment der erlösende Schuss fallen würde, sah sie wieder klar. Sie wusste wieder, wer sie war: Nadjeschka Kosak aus Stepove, neunzehn Jahre alt, verschleppt ins Großdeutsche Reich, Saboteurin.
    Der Wachhund bellte. Sie fasste nach dem Rahmen des Tors, stellte die Füße auf die untere Querverbindung aus Stacheldraht.
    »Was machst du da?« Schritte. Sie wurde heruntergerissen. »Bist du wahnsinnig?« Ein bärtiges Gesicht beugte sich über sie.
    »Na los, schießen Sie. Ich wollte fliehen.«
    »Du hast schlecht geträumt oder bist mondsüchtig oder so etwas.«
    »Ich bin wach. Ich wollte fliehen.«
    »Was ist bloß mit euch los! Gestern haben sie schon eine von euch erschossen. Willst du die Nächste sein? Wir können euch doch nicht alle umbringen! Deine Hand blutet. Komm mit.« Er half ihr auf und brachte sie zur Wachstube. Dem Schäferhund, der vor dem Eingang angebunden war, befahl er: »Aus! Ruhe jetzt!«
    Tatsächlich hörte der Hund auf zu bellen und setzte sich mit einem verwirrten Winseln.
    Warum konnte nicht Plöger Wachdienst haben? Der hätte sie sofort und mit großem Vergnügen erschossen. Dieser alte, bärtige Mann war zu gütig. Er setzte sie auf einen Stuhl in der Stube, holte Verbandszeug aus einer Kiste. Drückte ihr etwas Weißes auf den Handteller und wickelte Mull darum, bis es einen festen Verband ergab. Dann griff er zum Telefon. Wählte. »Herr Hartmann, verzeihen Sie bitte die späte Störung. Eine von den Frauen hat versucht, am Tor hochzuklettern. Sie will, dass ich sie erschieße. So ein junges Ding!«
    Eine Stimme wisperte etwas im Telefon.
    »Wie heißt du?«, fragte der Wachmann.
    Sie sagte ihren Namen.
    »Komm«, sagte Georg, »wir gehen rüber in mein Büro. Dort kannst du mir erzählen, was los ist.«
    Wie ein Häuflein Elend saß sie da. Lethargisch, geistig völlig abwesend. Sie sah ihn nicht an, es war, als hätte sie nichts gehört.
    Er warf dem Wächter einen raschen Blick zu. »Hat sie viel Blut verloren?«
    »Ach was. Das ist nur ein Kratzer. Vorhin hat sie auch noch gesprochen, sie hat gesagt, dass ich schießen soll.«
    Er näherte sich ihrem Gesicht. »Kannst du nicht aufstehen, Nadjeschka? Bist du zu schwach?«
    Da stand sie auf.
    Er führte sie über den stillen Nachtplatz zur Bürobaracke, schaltete das Licht ein, schloss hinter ihnen die Tür und brachte sie zum Schreibtisch. Er half ihr, sich zu setzen. Für sich selbst zog er einen zweiten Stuhl heran. »Was ist passiert?«
    Nadjeschka schwieg.
    »Warum wolltest du über das Tor klettern und dabei erschossen werden?«
    »Bitte rufen Sie die Gestapo.« Ihr Blick war voller Schmerz und zugleich von einer bitteren Entschlossenheit, die ihn erschreckte.
    Wollte sie einen Vorfall melden, eine Verschwörung? Die heutige Sabotage war womöglich nur der Anfang. Planten die Frauen einen Ausbruch? Aber das erklärte nicht, weshalb sie so litt. Hier ging es um sie persönlich. »Die Gestapo hat heute genug angerichtet.«
    »Sie hat einen Fehler gemacht«, murmelte sie.
    »Es ist immer falsch zu töten.« Moment. Einen Fehler gemacht? »Hast du …?«
    Sie nickte. Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich musste etwas tun. Ich wäre sonst abgestumpft, ich hab eine Verantwortung für meine Freunde! Die werden erschossen in der Ukraine, und ich helfe, die Munition dafür herzustellen. Und jetzt hab ich die

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