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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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hat noch genug Wucht, begreifst du das nicht?«
    Hans kratzte sich am Ohr. »Ach so.«

13
    Gleich als er heimkehrte, geriet Axel in einen Strudel der Unordnung. Im Wohnungsflur trat er auf etwas Weiches und zog Lillis Puppe unter seinem Schuh hervor. Die großen Schlafaugen klapperten, das Porzellangesicht sah ihn wehleidig an. »Lilli«, schimpfte er, »wie oft soll ich dir noch sagen, dass du deine Spielsachen nicht herumliegen lassen sollst, zum Donnerwetter!« Vor der Kommode war ein Turm aus Bauklötzen eingestürzt. Siegfrieds Spielzeugpanzer parkten zwischen den Schuhen.
    Im Wohnzimmer tschilpte etwas, und Siegfried rief: »Lass mich mal!« Daraufhin protestierte Lilli: »Ich! Ich!«, und Anne liese versuchte zu besänftigen, doch ihre Worte waren kaum noch zu verstehen, da erneut schrille Tierlaute ihre Stimme übertönten.
    Er folgte dem Geschrei und fand die ganze Familie um die Kommode neben dem Rosshaarsofa versammelt, zwischen sich einen Käfig. Ein grüner Vogel hüpfte darin aufgeregt von Stange zu Stange. »Wo habt ihr den her?«, fragte er.
    Die drei schwiegen. Nur der Wellensittich tschilpte.
    Anneliese versuchte eine Erklärung: »Bitte, sei nicht böse. Ein Züchter aus Soest hat angerufen. Er hat uns den Vogel für zwanzig Mark angeboten, sonst kosten sie dreißig, und weil doch Siegfried in fünf Wochen Geburtstag hat und er sich so sehr ein Haustier wünscht …«
    »Meine Meinung dazu spielt keine Rolle, oder wie?«
    »Wir können ihn zurückgeben«, sagte sie kleinlaut.
    »Nein!« Siegfried umarmte den Vogelkäfig. »Meinen Baldur geb ich nicht her. Er fängt doch gerade an, zutraulich zu werden. Ich wollte ihn Onkel Georg zeigen, wenn er kommt. Er findet es gut, wenn Kinder ein Haustier haben, da lernt man, sich um etwas zu kümmern.«
    »Es ist mir schnurzegal, was dein Onkel findet. Er soll sich aus eurer Erziehung raushalten. Der kriegt’s doch nicht mal hin …«
    Anneliese warf ihm einen erschrockenen Blick zu, der ihn verstummen ließ.
    »So ist es nun mal«, brummte er.
    »Bitte, Axel, rede nicht abfällig über meinen Bruder.«
    »Ohne meine Hilfe wäre dein wunderbarer Bruder jetzt nicht Lagerführer, sondern irgendwo an der Front im Schützengraben.«
    »Guck, Papa, Baldur kennt mich schon.« Siegfried öffnete die Käfigtür und hielt dem Vogel den Finger hin. Der Sittich schnappte mit dem Schnabel zu. Siegfried riss seine Hand aus dem Käfig. »Au! Baldur!«
    Der Vogel hüpfte in die Käfigtüröffnung und flatterte hinaus. Heftig mit den Flügeln schlagend kreiste er im Zimmer. Lilli begann zu weinen. Anneliese stieg auf einen Stuhl und hielt dem Wellensittich ihre Hand hin, in der Hoffnung, er würde darauf landen. Aber Baldur setzte sich auf die Gardinenstange, außer Reichweite für jedermann.
    »Na wunderbar.« Axel lehnte sich gegen die Kommode und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur Versager in der Familie. Hast du eigentlich mal nachgedacht, Anneliese? Reichen zwei ungezogene Gören nicht, brauchtest du unbedingt einen wildgewordenen Vogel dazu?«
    Sie stieg vom Stuhl herunter. »Natürlich hab ich nachgedacht.«
    Siegfried hüpfte an der Gardine hoch. »Komm runter, Baldur! Bitte! Sonst schickt Papa dich wieder weg.«
    Der Vogel kackte, und der weiße Kot zog eine Schliere über die Gardine.
    »Mist.« Schuldbewusst sah ihm Siegfried ins Gesicht. Auch Anneliese sah ihn an wie in Erwartung seines endgültigen Urteils.
    Er war es leid, ständig Entscheidungen treffen zu müssen. Die Russin stand ihm wieder vor Augen, ihr blutüberströmter blonder Kopf. War es richtig gewesen, sie zu töten? So eine widerwärtige Aufgabe, Menschen abzuknallen! Nur: Was sonst sollte mit denen passieren, die sich gegen den Staat auflehnten und der deutschen Kriegsmaschinerie in die Flanken fielen? Wenn man sie bloß einsperrte, musste man sie jahrelang im Gefängnis durchfüttern, bis das Großdeutsche Reich etabliert war. Das konnte man sich im Krieg nicht leisten, wo selbst die brave arbeitende Bevölkerung Einschnitte bei der Versorgung hinnehmen musste. Er schüttelte den Gedanken an die tote Russin ab und sagte: »Es gibt sowieso kein Vogelfutter mehr.«
    »Doch, Axel, in Soest hat noch eine Tierhandlung geöffnet. Und im Notfall holen wir uns Getreide vom Bauern.«
    »In Soest im Laden haben sie sogar Sprechsamen«, sagte Siegfried. »Wenn er sprechen soll, muss er die jeden Tag ins Futter bekommen.«
    Beharrte er darauf, dass sie den Vogel zurückgaben, würde er wochenlang

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