Nachtauge
als der böse strenge Vater dastehen, und Georg würde noch höher in der Gunst der Kleinen steigen. Die Kinderlosen sahnten doch überall ab! Sie hatten keine Mühe mit quengelnden, fiebergeschüttelten oder müden Bälgern. Sie tra fen die Kinder doch immer nur zum Spielen. Dafür wurden sie in den Himmel geliebt, während die wirkliche Leistung von den geplagten Eltern erbracht wurde. Axel rollte mit den Augen. »Also gut. Wir behalten den kleinen Racker. Aber du, Siegfried, tust ihm jede Woche frische Zeitung in seinen Bauer, und du fährst selbst nach Soest und besorgst Vogelsand. Ich will dich nicht daran erinnern müssen!«
»Nein Papa, das musst du bestimmt nicht.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Ich hab ihn doch lieb, da kümmere ich mich gerne um ihn.«
»Und du, Lilli, hebst sofort deine Puppe auf, die bei den Schuhen liegt.«
Pflichtschuldig tippelte sie in den Flur, um ihren Teil dazu beizutragen, dass der Vogel gerettet wurde.
Anneliese fragte: »Ist das Blut an deiner Hose? Hast du dich etwa verletzt?« Besorgt beugte sie sich hinunter.
»Hast du mit Partisanen gekämpft, Papa?« Siegfrieds Stimme klang begeistert.
»So ähnlich. Es war eine Frau, eine Partisanin.« Dass der Kampf wenig heldenhaft gewesen war – nun ja, sollte der Junge ruhig seine abenteuerlichen Vorstellungen pflegen. »Nimm dir ein paar Körner auf die Hand und locke deinen Baldur an.«
»Mach ich, Papa.«
Er öffnete die Gürtelschnalle und ließ die Hosen runterfallen, stieg heraus, hob sie auf und drückte sie Anneliese in die Hand. »Die kannst du auswaschen. Ich bin unverletzt, wie du siehst.« Er zog die Straßenschuhe aus. Anneliese bückte sich, um sie ihm abzunehmen, aber er wehrte ab. »Lass nur. Ich putze sie selbst.«
Er hatte natürlich keine Lust, sie zu putzen, aber er spürte schon wieder diese Unruhe in sich, dieses Wühlen und Rumoren. Den ganzen Nachmittag hatte er unter Schweißausbrüchen gelitten, und jetzt fingen seine Augenlider an zu flattern. Er versicherte sich mit einem raschen Blick, dass alle im Wohn zimmer beschäftigt waren, und schlich ins Schlafzimmer. Leise zog er die unterste Schublade auf, entnahm ihr die Zigarrenkiste und öffnete sie. Aus der Luminalschachtel klaubte er eine Tablette heraus und verstaute alles wieder. Er ging ins Bad, schluckte die Tablette und trank Wasser nach.
Dann kniete er sich in den Flur und trug schwarze Schuhcreme auf das Leder auf. Er verrieb sie mit einem Lappen. Der strenge Geruch der Farbe stieg ihm in die Nase, während das Medikament ihm Wärme und inneres Gleichgewicht zurückgab. Er bürstete den Schuh, jeden Winkel, jede Naht, bis das Leder glänzte. Es beruhigte ihn, die Schuhe auf Hochglanz zu bringen.
Eine Frau aus dem Sekretariat hatte Katjas Arbeitsplatz übernommen, damit die Bänder wieder rollen konnten. Nadjeschka befüllte und presste Geschosse. In ihren Ohren gellte der Knall, immer wieder. Sie hatten Katja umgebracht.
Das hab ich nicht wissen können, dass sie gleich schießen, verteidigte sie sich in Gedanken, ich wusste doch nicht, dass ihnen egal ist, ob sie die Schuldige haben oder irgendwen, dass sie in ihrer Wut aufs Geratewohl losballern!
Du lebst, sagte eine leise Stimme in ihr, und sie ist tot. Du hättest dich melden müssen, aber du warst zu feige, jetzt bist du froh, dass du davongekommen bist, während die tapfere Katja sterben musste.
Hatte sie die Löffel nicht bloß in die Maschinen geschmissen, um sich besser zu fühlen? Sie hatte nur an sich gedacht und nicht an die anderen. Und als dann die Gestapo kam, glaubte sie auch noch, die Polizisten an der Nase herumführen zu können.
Katja war tot, für immer tot. Sie würde nichts mehr sagen. Nichts mehr essen. Nicht atmen. Sich nie wieder am Gesang der Vögel erfreuen oder an der Sonne auf ihrer Haut, nichts mehr träumen und nicht mehr lachen.
War es nicht besser, sich einfach zu stellen und sich ebenfalls erschießen zu lassen?, fragte sich Nadjeschka. Sie hatte ein starkes Gefühl der Unwirklichkeit, die Hände verrichteten mechanisch die Arbeit am Fließband, füllten Geschosse mit Schwefel. Mittags löffelten sie Suppe in den Mund. Am Abend trugen ihre Füße sie zurück ins Lager. Dabei hatte sie das Gefühl, ihren Körper von außen zu sehen, hinter sich selbst herzulaufen und nur durch eine Nebelwand zu beobachten, was sie tat.
Eigentlich dürfte ich gar nicht mehr am Leben sein, dachte sie.
Ihr Körper saß im Zimmer auf dem Bett und beantwortete
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