Nachtauge
ihnen noch ein Stück auf den Fahrrädern durch den Ort. Dann hatten sie die Landstraße für sich. »Angenehmer Frühlingstag, oder?«, fragte der Fahrer.
»Ja, herrlich.«
Darin erschöpfte sich für Georg die Konversation während der knapp einstündigen Fahrt. Der Fahrer plauderte mit den zwei Frauen, die er ebenfalls nach Dortmund zu bringen hatte; wie er heraushörte, die Ehefrauen von Parteibonzen.
Er sah aus dem Fenster. Nun wurde er doch unruhig. Vor zwei Monaten hatte Goebbels im Sportpalast den totalen Krieg ausgerufen, seither verfolgten sie bestimmt noch rigoroser jeden Abweichler.
Die Motordroschke fuhr in die Stadt hinein. Plakate am Straßenrand zeigten einen buckligen, hakennasigen Juden, überschrieben mit dem Slogan: »Wer ist schuld am Kriege? – Der hier!«
Ab und an sah man ein bombengeschädigtes Haus, aber die Straßenbahnen fuhren, Damen führten ihre Pudel spazieren, die Geschäfte waren geöffnet. Vom Krieg war in Dortmund nicht viel zu sehen.
Sie hielten vor einem klotzigen Bürogebäude. »Die Deutsche Arbeitsfront, Herr Hartmann.«
»Besten Dank. Bitte holen Sie mich in zwei Stunden wieder hier ab.« Er stieg aus und schlug die Autotür zu. Sah am Gebäude hinauf. Es schien eigens dafür gebaut worden zu sein, Besucher einzuschüchtern. Zur Eingangstür führte eine Treppe hinauf wie in einen Tempel. Schmucklos und kühl blickten die Fenster, in exakt gleichen Abständen nebeneinandergereiht, auf die Straße.
Er stieg die Treppe hinauf, drückte die bronzene, geschwun gene Griffstange der Eingangstür und trat ein. Im Foyer, das mit Marmor ausgelegt war, saß ein Pförtner hinter einer Glasscheibe. Er wies ihm mürrisch eine Zimmernummer an. »Dritter Stock«.
Fahrstühle gab es nicht. Als Georg oben anlangte, atmete er schwer. In dem kahlen langen Flur fand er rasch die richtige Tür. Er wartete davor, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Dann klopfte er.
Keine Antwort.
Er klopfte erneut. Die Tür schluckte sein Klopfen, sie musste besonders dick oder von innen gepolstert sein, er hörte das Klopfen ja kaum selbst. Was blieb ihm anderes übrig, als eine erste Sünde zu begehen, die den Amtsträger bereits erzürnen konnte? Er drückte die Klinke herunter und steckte den Kopf durch den Türspalt.
Eine Sekretärin sah von ihrer Schreibmaschine auf. »Ja bitte?«
»Mein Name ist Hartmann. Ich habe …«
»Ah, Sie.« Ein verächtlicher Ton, so kam es ihm vor, als sei er ein besonders haarsträubender Fall. Als sei bereits ein Urteil über ihn gesprochen. »Gehen Sie durch. Herr Breitling erwartet Sie.«
Vom Vorzimmer führte eine Seitentür ins benachbarte Büro. Darin drückte ein Schreibtisch, so groß wie eine Festtafel, einen Gummibaum an die Wand. Hinter dem Tisch thronte ein Mann mit randloser Intelligenzbrille.
Mit Schaudern erkannte er den Blutorden an der rechten Brusttasche des Herrn Breitling. Der musste ein Nazi der ersten Stunde sein, einer von denen, die schon beim Putsch 1923 dabei gewesen waren und sich im Straßenkampf für die NSDAP ausgezeichnet hatten. Allerdings hatte er eher die Figur eines Büromenschen – die Uniform saß schlecht auf den schmächtigen Schultern. Eigentümlich, dass das Schreibtischmännlein ein Frontkämpfer des Nationalsozialismus gewesen sein sollte.
»Setzen Sie sich.« Die Stimme stählern. Auffordernd wies Breitling ihm den Anklagestuhl vor dem Schreibtisch.
Er nahm Platz.
»Sie leiten die Wohn- und Verpflegungslager e.G.m.b.H. in Neheim.« Der Mann tippte mit seinem Federhalter auf die Akte, die vor ihm lag. Kein alter Füller, sondern ein silbern blitzender Waterman.
Niemand nannte das Barackenlager so. In Neheim hieß es Russinnenlager. Offenbar legte sein Gegenüber Wert auf offizielle Bezeichnungen. »Ja, das ist richtig«, sagte Georg.
Breitling starrte in seine Unterlagen. »Sie haben sich beim Gewerbeaufsichtsamt Soest über die Unterbringung der Lagerinsassen beschwert. Außerdem haben Sie Eingaben an die offiziellen Stellen gemacht in dem Versuch, die Nahrungsmittelzuteilung für die Ostarbeiterinnen zu erhöhen, und sich beim Marienhospital in Arnsberg darüber mokiert, dass Fremdvölkische von der Krankenhausleitung wegen Überfüllung abgewiesen wurden.« Er sah hoch. »Wenn Sie im Geben genauso engagiert wären wie im Nehmen, Herr Hartmann, säßen Sie nicht hier.«
»Ich habe wie jedes Jahr für das Winterhilfswerk gespendet.«
»Ja. Eine Reichsmark.« Der Mundwinkel des Mannes zuckte. »Eine lächerliche
Weitere Kostenlose Bücher