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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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man nicht spazieren gehen? Das hat doch nichts mit Blutschande zu tun.«
    Axel polterte: »Die russischen Kriegsgefangenen dürfen nicht mal am Tisch des Bauern sitzen, bei dem sie arbeiten, die müssen im Hausgang essen. Wenn sie mit der Familie des Bauern an einem Tisch erwischt werden, gibt es drakonische Strafen! Und du, du gehst mit einer Lagerinsassin spazieren!«
    »Warum sollen diese Menschen im Hausgang essen? Sie sind nicht schlechter als wir.«
    »Einen Landstreicher würdest du auch nicht an den Tisch bitten. Nichts anderes sind diese Steppenmenschen. Pass auf, dass sie ihre Arbeit machen, und halt dich sonst von ihnen fern. Von den Männern wie den Frauen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden.« Axel lehnte sich wieder zurück. »Hast du Kaffee für mich, mein Annelieschen?«
    »Nur Ersatzkaffee.«
    »Dieses widerliche Zeug! Ich kotze, wenn ich Zichorie nur rieche. Warum hast du keinen richtigen Kaffee gekauft? Den gibt’s doch noch unter der Hand?«
    »Ja, das Pfund für zweihundert Mark.«
    »Dann eben her mit dem Muckefuck«, knurrte Axel. »Wir müssen zusehen, dass wir endlich den Krieg gewinnen.«

17
    Georg drehte die Wählscheibe. Wartete, bis sie auf die Ausgangsstellung zurückgekehrt war. Drehte sie erneut. Immerhin, die neue Selbstwähltechnik ersparte ihm das Fräulein vom Amt mit ihrem unfreundlichen: »Hier Amt, was beliebt?« Er nahm den Hörer ans Ohr. Es rauschte, dann knackte es einige Male.
    Eine leise Stimme sagte: »Verkehrspolizei Neheim-Hüsten, Krick am Apparat. Was wünschen Sie?« Es klang, als befände sich dieser Herr Krick am anderen Ende der Welt.
    »Ich brauche eine Fahrterlaubnis.«
    »Für wie viele Personen?«
    »Nur für mich.«
    »Name?«
    »Georg Hartmann.«
    »Grund?«
    »Ich habe einen dringenden Gesprächstermin bei der Deutschen Arbeitsfront in Dortmund.«
    Die Leitung rauschte wieder, davon abgesehen war es still. Der Beamte schrieb offenbar mit. Endlich die Antwort: »In Ordnung, Sie dürfen mitfahren. Rufen Sie die Autovermittlung an, frühestens in einer Stunde.«
    »Vielen Dank. Auf Wiederhören.« Er drückte die Gabel nieder. Alles wollte dieser Staat bestimmen. Wann er Auto fuhr. Was er aß. Wen er liebte.
    Er sah aus dem Fenster auf die verwaiste Straße. Nadjeschka schuftete jetzt am Fließband, sie wurde von rassistischen Schichtleitern drangsaliert – eine einfühlsame, wunderschöne Frau, die man für die Kriegsmaschinerie in den Dreck stieß, die Knochenarbeit leistete, fernab der Heimat.
    Er ging ins Wohnzimmer und holte aus der obersten Schub lade der Kommode das Sommerkleid mit dem roten Blumenmuster. Sehnsüchtig grub er das Gesicht hinein und sog Nadjeschkas Duft in sich auf. Sie hatte so verführerisch darin ausgesehen! Der Stoff verströmte immer noch ihre mädchenhafte Leichtfüßigkeit, ihr sinnliches Lächeln.
    Wäre er nur mit ihr in den Kinofilm gegangen! Bei Tages licht mussten sie ihre Zuneigung verheimlichen, aber im Dunkel des Kinos hätte er es vielleicht gewagt, ihre Hand zu nehmen.
    Wie konnte er ihr eine Freude machen? Sollte er ihr anbieten, einen Brief an ihre Familie aus dem Lager zu schmuggeln und abzusenden? Er konnte ihr einen Kuchen backen! Besonders begabt war er nicht in der Küche.
    Doch bei dem furchtbaren Fraß, den die Frauen im Lager bekamen, wäre selbst ein missratener Kuchen eine gute Abwechslung.
    Also wusch er sich die Hände, band sich eine Schürze um und rührte ein kostbares Stück Butter ins Mehl. Er gab sein letztes Ei hinzu, vermischte und knetete. Hefe und eine Backform borgte er sich von Frau Maier, die ihn hintergründig anlächelte, sie brauchte keine Fragen zu stellen diesmal, sie verstand. Es war ihm gleichgültig.
    Und der Kuchen, so schien es ihm zumindest, gelang sogar. Die ganze Wohnung duftete danach. Er stellte sich vor, wie Nadjeschkas Augen leuchten würden, wenn sie hineinbiss, und aus lauter Vorfreude lachte er.
    Der Termin in Dortmund kam ihm in diesem Moment wie ein lästiger Zahnarztbesuch vor. Er stellte sich unten an den Straßenrand und wartete auf die Motordroschke. Kaum noch ein Auto fuhr durch dieses Stadtviertel. Die Kinder spielten auf der Straße, sie lernten Rad fahren, wo noch vor vier Jahren Autofahrer gedrängelt hatten. Als das Taxi kam, rannten sie herbei und bestaunten es. Die meisten Fahrzeuge waren von der Wehrmacht beschlagnahmt worden, nur wer einen roten Winkel als Kennzeichen hatte, durfte fahren.
    Als er eingestiegen und das Auto gestartet war, folgten die Jungs

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