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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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hier, hast dich immer anständig verhalten. Dir vertraue ich. Pass auf das Mädel auf, sie hat Flausen im Kopf.« Er zog einen blinkenden Schlüssel heraus und öffnete das Vorhängeschloss am Tor. »Und jetzt los mit euch, bevor es die anderen Frauen sehen. Ich will, dass ihr in einer Stunde wieder hier seid. Macht keinen Unfug und haltet euch von den Gasthäusern fern. Sprecht niemanden an, verstanden?«
    Sie schlüpften hinaus in die Nacht, und er schloss hinter ihnen das stacheldrahtbespannte Tor.
    Der Weg in die Stadt hinein war dunkel. Die meisten Straßenlaternen waren ausgeschaltet, und die Wohnzimmerfenster zeigten nur schmale Schlitze von Licht – den Rest schluck ten Verdunkelungsrollos, die verhindern sollten, dass feindliche Bomber sich am Lichterteppich der Städte orientierten. Trotzdem, die nachtgrauen Straßen gaben ihr das Gefühl, frei zu sein. Sie konnte nach links abbiegen oder nach rechts, kein Wehrmachtssoldat brüllte sie an und zwang sie, in die Kolonne zurückzukehren. »Wolltest du mir nur helfen, rauszukommen, oder hast du es dir noch mal überlegt und kommst mit?«
    »Ich komme mit. Ich muss meine Kinder sehen.«
    Eine Welle von Glück durchströmte Nadjeschka. Sie fiel der Freundin um den Hals. »Danke!« Der Weg in die Ukraine war weit. Nun würde sie ihn nicht allein zurücklegen müssen.
    »Wie geht es weiter?«, fragte Oksana. »Was ist dein Plan?« Das Ukrainisch der Freundin war wie ein Vorgeschmack auf die Heimat, die sie bald wiedersehen würden.
    »Wir verstecken uns so lange im Wald, bis sie die Suche aufgeben.«
    Oksana blieb stehen. »Die haben Hunde. Hast du dir das nicht überlegt? Die spüren uns im Handumdrehen auf.«
    »Aber die Wälder hier sind endlos. Wie sollen sie das alles durchsuchen?«
    »Wenn sie einen Hirsch oder ein Schwein finden können, dann auch einen Menschen. Ich dachte, du hättest die Flucht geplant!«
    »Hab ich auch. Ich habe uns aus dem Lager gebracht, ohne Schüsse, ohne Verfolger. Niemand sucht uns, zumindest für die nächsten Stunden. Sehen wir, dass wir Land gewinnen.«
    »Ich will dir nicht die Illusionen rauben, Nadjeschka, aber aus dem Lager zu kommen, war nicht der schwierigste Teil. Vor einem Dreivierteljahr hat Herr Hartmann sogar mal einer ganzen Gruppe von Frauen Ausgang gewährt, unbewacht! Überleg doch: Die wissen genau, dass wir keine Chance haben, wenn wir fliehen. Sonst hätte uns der Wärter gar nicht rausgelassen.« Sie rieb mit dem Daumen über ihren Aufnäher » OST « an der Jacke. »Vielleicht sollten wir besser zum Rathaus gehen und dann ins Lager zurückkehren.«
    »Und was sagen wir Georg Hartmann? Es gibt keine dringende Nachricht für ihn. Wie erklären wir, dass man uns ins Rathaus geschickt hat? Mach du, was du willst. Ich ver schwinde von hier. Ich arbeite keinen Tag länger in der Fabrik und baue Munition, mit der sie auf meine Verwandten schießen.« Sie beschleunigte ihren Schritt.
    Oksana folgte ihr. »Du weißt doch gar nicht, wohin …«
    An der Kreuzung trafen sie auf ein Pärchen, die Dame beim Herren untergehakt. Als sie die beiden passierten, sagte die Dame erstaunt: »Dass die hier so herumlaufen können, ohne Bewachung?«
    Vor einer Kirche blieb Nadjeschka stehen. Sie zog ihre Jacke aus, drehte die Ärmel von innen nach außen, um sie dann verkehrt herum anzuziehen. »Du musst dich jetzt entscheiden, Oksana«, sagte sie.
    Die Freundin sah an den wuchtigen Kirchtürmen hinauf. »Wie können sie zu Gott beten und dann morden?« Sie seufzte. Schließlich zog sie ebenfalls ihre Jacke aus. Die Kirchturmglocke schlug, als wollte sie die Entscheidung besiegeln.
    Der Bürgermeister versprach Bier und Kartoffelsuppe für die Pause. Anschließend sollte es einen Lichtbildervortrag geben: »Die ukrainische Steppe als Lebens- und Kampfraum der Völker in Vergangenheit und Gegenwart«.
    Steppe. Mit welcher geschickten Wortwahl sie Nadjeschkas Heimat degradierten, dachte Georg. Was konnte es da schon Besonderes geben in der Steppe? Das Gebiet stand zur freien Verfügung, und da die Deutschen die Stärkeren waren, holten sie es sich.
    So, wie seine Landsleute hier feierten, wirkte es, als seien der Nationalsozialismus und Hitlers Marschrichtung ihnen gar nicht aufgezwungen wurden. Die Suppe musste ihnen nicht mit Zwang eingeflößt werden, sie löffelten sie selbst mit Freuden aus. Es schmeckte ihnen, was der Ortsgruppenleiter da von sich gegeben hatte. Wenigstens waren nicht alle gekommen, ein großer Teil der Bürger

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