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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Alte die Augen zusammen. »Geht es um einen Fluchtversuch?«
    Sie nickte. »Da braut sich was zusammen.«
    »Er ist bei der Ortsversammlung. Ich versuche, ihn dort zu erreichen.« Er eilte zur Wachbaracke.
    Georg meinte, irgendwo in den oberen Stockwerken des Rathauses ein Telefon klingeln zu hören. Aber das bildete er sich wohl nur ein. Wer sollte um diese Uhrzeit hier anrufen? Jeder wusste doch, dass die Verwaltungsangestellten längst zu Hause bei ihren Familien saßen oder hier im Saal, während Ortsgruppenleiter Bergmann auf den Höhepunkt seiner Rede zustrebte: »Millionen stehen an der Front und erstreiten uns den ersten Platz in der Weltgeschichte. Millionen erfüllen hier in der Heimat an den Fließbändern der Waffenfabriken ihre Pflicht. Wir werden rücksichtslos gegen jeden vorgehen, der diese Gemeinschaft untergräbt. Friedrich der Große schuf einst den Orden der Offiziere. Der Führer schenkte dem Volk den Orden der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands. Deutschland ist die NSDAP , die NSDAP ist Deutschland. Noch in tausend Jahren wird es heißen: Mein Führer ist Adolf Hitler! Sieg Heil!«
    Erlöst fiel das Publikum in den Ruf ein. »Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!«
    Tosender Applaus. Georg drehte sich vorsichtig nach Axel um. Auch der applaudierte begeistert. Stand da in seinen Breeches, den Reiterstiefeln, Schulterstücken, den SS -Runen auf den Spiegeln und dem SS-Dolch am Gürtel. Sobald sie auf der Flucht waren, würde Axel auf sie Jagd machen. Er würde schießen, ihnen beiden das Hirn aus dem Schädel pusten. Anneliese aber liebte diesen Mann. Sie kochte für ihn, pflegte ihn, wenn er Grippe hatte. Für Siegfried und Lilli war er der bewunderte Vater, sie saßen auf seinem Schoß, ließen sich von ihm einen Gutenachtkuss geben. War es nicht mit jedem Mann hier im Saal so? Hatte nicht jeder eine Familie, spielte mit den Kindern, fuhr in den Urlaub, hatte seine Leibspeise und seinen Feierabend, alte Schulfreunde und schwamm gern im Möhnesee?
    Ein Lied wurde angekündigt. Schon schmetterte die Menschenmenge:
    Ihr Sturmsoldaten jung und alt nehmt die Waffen in die Hand,
    denn die Juden hausen fürchterlich im deutschen Vaterland.
    Wenn der Sturmsoldat ins Feuer geht, ei da hat er frohen Mut,
    und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, ei da geht’s noch
    mal so gut.
    Hundertzehn Patronen umgehängt, scharf geladen das Gewehr
    und die Handgranate in der Hand, Bolschewiki, komm mal her.
    Als Sturmsoldaten ziehen wir mit Adolf Hitler in den Kampf.
    Entweder siegen oder sterben wir fürs deutsche Vaterland.
    Georg wagte nicht, sich schon wieder umzudrehen. Er hörte Axels Stimme auch so heraus. Wie konnte der Schwager solchen Unsinn singen? Aber sie waren ja keine Einzelpersonen mehr, hier durfte niemand nachdenken oder seine Meinung sagen, der Einzelne galt nichts, die Masse alles. Das enthob sie von jeglicher Verantwortung.
    Er ertappte sich dabei, Mundbewegungen zu imitieren, damit es wenigstens so aussah, als würde er mitsingen. Er durfte jetzt nichts riskieren, Heuchelei hin oder her, er musste die Nazis in Sicherheit wiegen, wenn seine Flucht mit Nadjeschka gelingen sollte.

20
    Lange Zeit blieb Oestreicher in der Wachbaracke verschwunden. Dann kam er wieder heraus. »Im Rathaus geht niemand ran. Und bei der Feier unten im Saal werden sie kein Telefon haben.«
    »Bitte, ich muss ihn benachrichtigen!« Sie sah zu den Wachtürmen hoch. »Da oben sind doch auch Soldaten, das Lager ist gut bewacht. Bringen Sie mich zu ihm!«
    »Ich werde auf keinen Fall meinen Posten verlassen, Mädchen. Wir haben sowieso schon weniger Personal wegen der Ortsfeier. Wie stellst du dir das vor? Sechzehn Baracken und Hunderte von euch, nachher startet der Ausbruchsversuch gerade, wenn ich fort bin!« Er fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Bist du vernünftig?«
    »Natürlich.«
    Zweifelnd musterte er sie. »Wohl ist mir bei der Sache nicht.«
    Schritte schmatzten im Matsch. Sie drehte sich um. Oksana hatte die Küchenbaracke verlassen und näherte sich ihnen. »Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte sie.
    »Ich muss dieses Mädchen zum Rathaus schicken mit einer Nachricht für den Lagerführer. Aber eine Ostarbeiterin im Dunkeln allein in der Stadt, das verstößt gegen sämtliche Regeln.«
    »Schicken Sie mich mit«, sagte Oksana.
    Hatte sie sich anders entschieden, würde sie mit ihr kommen?, fragte sich Nadjeschka. Oder wollte sie ihr nur helfen?
    Er nickte. »Ja, das ist besser. Du bist schon lange

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