Nachtauge
fürchtete. Und sie ihrerseits ignorierten ihn vor allem im Sportunterricht. Wenn Fußball gespielt wurde, war er ein störendes Anhängsel, einer, der emsig mitlief, aber den Ball meist nur aus der Ferne sah. Brillenschlange hatten sie ihn genannt und Wasserkopf. Jahrelang war es ihm gelungen, diese Typen zu meiden. Hier traf er sie wieder.
»Mal ehrlich«, sagte der eine. »Dem Fußball geht’s doch miserabel. Ein Haufen Spieler sind zur Wehrmacht eingezogen. Sogar August Klingler, der kann nur noch gelegentlich als Gastspieler bei Breslau oder so mitmischen. Stattdessen holen sie jetzt die Senioren aufs Feld und unreife Jungspieler.«
»Vielleicht sollten wir uns melden.«
Sie lachten meckernd.
Jemand tippte ihm auf die Schulter. Georg drehte sich um.
Axel in voller SS -Montur. »Schön, dass du gekommen bist.«
»Wie lange wird es dauern?«
»Weiß nicht. Ein bis zwei Stunden vielleicht.«
Ein anderer SS -Mann begrüßte Axel. »Lieber Rottländer, wie geht’s Ihnen? Was machen die Kinder?«
»Der Älteste ist vor zwei Wochen in die HJ aufgenommen worden. Prachtbursche. Und Ihre?«
»Meine Jungs trainieren für die Reichsjugendwettkämpfe im Sommer. Laufen, Springen, Werfen, die Burschen sind einfach unschlagbar. Ein paar Siegernadeln sind ihnen sicher. Da schlägt einem stolz das Vaterherz.«
Die Tür ging auf, und die Männer von der Partei schritten herein. Wie auf Kommando erhob sich das gesamte Publikum, sie standen mit nach vorn gerichtetem Gesicht und steil erhobenem rechtem Arm, bis die Bonzen auf der Bühne Platz genommen hatten. Löffler, der Bürgermeister, trat ans Pult. Georg konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen, als der Kerl voller Stolz von »unserer Lampenstadt Neheim« redete, von ihrem weltweiten Ruhm, der bis nach China, Japan, Afrika, Indien und Südamerika reichte. »Auch im Zeitenwandel ist Neheim vorne dran, unsere Beleuchtungskörper und unser elektrotechnisches Installationsmaterial können sich sehen lassen. Und die Neheimer Jungs an der Front gehören zu dem Härtesten, das Deutschland aufzubieten hat.« Er kündigte den heutigen Sprecher an, Ortsgruppenleiter Bergmann.
Unter großem Applaus und Sieg-Heil-Rufen trat der an das Rednerpult. Dann wurde es still, während Bergmann die Anwesenden musterte. Sein Blick blieb an Georg hängen, er starrte ihn an wie ein Tier, das er noch nicht kannte. Schließlich wanderte der Blick weiter. »Durch seinen Fleiß«, begann er, »hat das deutsche Volk den Hass des Judentums auf sich gezogen. Denn die Juden scheuen die Arbeit. Aber das deutsche Volk hat den jüdischen Parasiten nicht länger geduldet, es hat ihn abgeschüttelt. Auch in Zukunft werden wir uns körperlich und geistig gesund halten. Nicht den kleinsten Kratzer dulden wir auf der spiegelglatten Politur des nationalsozialistischen Staates. Das deutsche Volk wird stärker von Jahr zu Jahr. Der Endsieg ist unser!«
Einige Zuhörer brüllten begeistert: »Sieg Heil!«
»Adolf Hitler hat mit seinem Idealismus nach den Sternen gegriffen, und er hat das Volk über sich selbst hinausgeführt. Der Durchschnittsmensch kann die Kraft seines Glaubens, seine seelische Stärke und die Konsequenz seines Charakters gar nicht erfassen. Er ist ein lebendiger Aufruf an das Volk. Das Größte unserer ereignisreichen Zeit bleibt das Beispiel der Person Adolf Hitlers! Er steht vor uns in schier unbegreiflicher Würde, er ist fast schon eine mythische Figur für uns geworden, und der Blick auf den Führer ist unser stärkster Vorsprung vor jedem Feind, denn er stärkt unsere Volksseele. Adolf Hitler ist von der Vorsehung auserwählt!«
Georgs Gedanken schweiften ab: Ich muss Essen einkaufen, und zwar solches, das sich lange hält und gut transportiert werden kann. Wenn die neuen Marken kommen, kauf ich Wurst und Hartkäse. Eingewecktes in Gläsern können wir nicht schleppen. Aber Nüsse, Nüsse sind ideal. Und ich hab noch eine Dose Gänsefleisch. Das können wir auch kalt essen auf der Flucht.
Er brauchte haltbare Kleidung, unauffällig musste sie sein, man durfte ihnen nicht ansehen, dass sie auf der Flucht waren. Wie viele Paar Socken besaß er noch? Die Schuhe sollte er sich vorher neu besohlen lassen, die Kriegsware hielt nicht lang, Sohlen aus Presspappe weichten im Schnee auf oder bei nasser Straße, im letzten Winter war ihm zweimal die Sohle abgefallen. Ob irgendwo noch Gummisohlen zu haben waren, unter der Hand, für einen Aufpreis?
Der Fußballanhänger neben ihm
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