Nachtauge
haben. Das Bluten hörte nicht mehr auf.
Die Agentin zog das schwarze Kleid aus. Sie schlüpfte in den Rock, knöpfte Kathleens Bluse zu. An der Tür keuchte Scott, er kroch hilflos umher. Die Agentin zog die Jacke über. Sie fasste in die Innentasche, holte Kathleens Ausweis heraus und sah prüfend darauf, als wollte sie sich ihren Namen einprägen. Dann steckte sie ihn wieder ein, räumte kleine Dinge aus ihrer Handtasche und steckte sie sich in die Rocktaschen. Die Handtasche, die sie mitgebracht hatte, ließ sie achtlos zu Boden fallen. Stieg über Scott hinweg, schloss die Tür hinter sich.
Aus Kathleens Beinen wich die Kraft. Sie musste sich hinsetzen. Ihr wurde kalt im Gesicht und an den Händen, den Füßen.
Nachtauge staunte über sich. Der Tod dieser Frau bedeutete ihr etwas. Vielleicht lag es daran, dass sie nun ihre Kleidung trug, sie war hineingeschlüpft in das Leben der anderen, und es war noch warm.
Für gewöhnlich bedeutete ihr ein einzelner Mensch nichts. Seine Zeit endete so oder so, irgendwann musste er den Platz räumen, und ein anderer nahm seine Stelle ein. Dass sie den Zeitpunkt etwas vorzog für einige Leute, war kein großer Eingriff.
Das Töten hatte nichts Heldenhaftes an sich. Sie brachte den Krieg nur zu den Leuten nach Hause. Aber im Gegensatz zu den Soldaten auf dem Schlachtfeld sah sie die Gesichter der Menschen, denen sie das Leben nahm, sie sah die Spielsachen auf der Treppe und die Strickjacke über dem Stuhl. Das berührte sie mitunter. Auf dem Schreibtisch von Kathleen Slater hatte sie ein Foto von zwei Kindern gesehen, einem Mädchen und einem Jungen. Die würden nun ohne ihre Mutter aufwachsen müssen. So wie sie ohne Mutter aufgewachsen war. Vielleicht trug das dazu bei, dass der Tod dieser englischen Sekretärin sie irritierte.
Sie schloss die Bürotür, zog die Uniform glatt und ging zielstrebig, aber ohne Eile den Flur entlang. Jemand, der ruhig und entspannt war, erzeugte weniger Aufmerksamkeit. In Wahrheit war ihre Zeit natürlich knapp bemessen. Sehr bald würde jemand die beiden Leichen entdecken.
Die benachbarte Bürotür war nur angelehnt. Hatte man das Röcheln der beiden gehört? Drinnen klapperte eine Schreibmaschine. Niemand würde weitertippen, wenn er mitbekam, wie nebenan jemand starb. Sie ging vorüber und las die Namen an den Türen. Wie erwartet, das letzte Büro im Gang gehörte dem ranghöchsten Offizier. Dort klopfte sie. Als keine Antwort kam, drückte sie die Klinke herunter und trat ein.
Das Büro war wesentlich größer als das am Beginn des Flurs. Der Stuhl am langen Tisch war nicht besetzt. Eine zerknüllte Packung Players lag im Papierkorb, der Seemann auf der Schachtel war zerknautscht wie die Nase eines Boxerhunds. Ein Raucher also. Vielleicht war der Group Captain nur für wenige Minuten fortgegangen, um sich neue Zigaretten zu holen. Sie trat an den Schreibtisch und schlug die Akte auf, die neben der noch halb vollen Kaffeetasse lag, und überflog den Text, unwichtiges Zeug. Eine nach der anderen durchwühlte sie die Schubladen. Nirgendwo der Stempel »Top Secret«.
Mit Schriftstücken über genaue Einsatzbefehle konnte sie ohnehin nicht rechnen, die lagen im Safe, und den zu knacken blieb ihr nicht die Zeit. Meistens verrieten sich die weggeschlossenen Dinge durch kleine, unbedachte Notizen, die musste sie finden. Sie hob einzelne Akten auf den Schreibtisch hoch und ging mit flinken Fingern die Blätter durch. Ihr fiel die Ecke eines braunen Umschlags ins Auge, die unter der Schreibtischunterlage hervorsah. Der Raucher musste ihn daruntergeschoben haben, bevor er das Büro verlassen hatte. Etwas, an dem er gerade gearbeitet hatte, das aber nicht in falsche Hände geraten sollte. Sie zog ihn heraus und spähte hinein. Luftfotos! Sie holte die Minox aus der Rocktasche und fotografierte. Klick. Nächstes Luftbild. Klick. Klick.
Die Tür öffnete sich. Sie hatte nicht mehr ausreichend auf Geräusche im Flur geachtet. Während sie sich vom Schreibtisch umwandte und ihre argloseste Miene aufsetzte, ließ sie den winzigen Fotoapparat in die Rocktasche gleiten. Ein Mann trat ein. Er hatte ohne Zweifel ihre Bewegung registriert, aber die Minox besaß ein Stahlgehäuse und war in etwa so groß wie ein Feuerzeug, er konnte nicht ahnen, um was es sich handelte. Sie lächelte. »Da sind Sie ja! Ich habe schon …«
»Was machen Sie in meinem Büro?«, herrschte er sie an.
»Missis Slater war überfordert mit der Aufgabe. Ich habe übernommen
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