Nachtblauer Tod
sich nicht wohl dabei, ein frisch operiertes Unfallopfer zu beklauen, das im AOK-Tiefschlaf lag. Aber jede Minute war kostbar. Möglicherweise war die Dame vom Jugendamt oder die Psychologin schon im Krankenhaus, außerdem hielt Leon es für möglich, dass Kommissar Büscher gleich kam, um ihn zu verhaften. Wer so verbohrt war, seinen Vater für den Mörder seiner Mutter zu halten, der glaubte vielleicht auch, dass er mit seinem Vater gemeinsame Sache gemacht hatte.
Leon öffnete die Tür einen Spalt und schielte in den Flur. Der verliebte Frauenbeschützer schob gerade einen Wagen durch den Flur, auf dem ein Tablett nervtötend klapperte. Zum Glück war dieses Gebäude sehr »hallig«. Leon konnte sich also ganz auf sein Gehör verlassen.
Der verknallte Pfleger trug Gummischuhe, die bei jedem Schritt ein Quietschgeräusch von sich gaben, als ob er einen Singvogel tottreten würde.
Frau Dr. Stindl dagegen trug italienische Schuhe. Eine Spur zu schön für eine Stationsärztin im Krankenhaus. Vermutlich sammelte sie Schuhe wie andere Leute Briefmarken oder schöne Erinnerungen.
Die meisten Patienten schlurften über die Gänge. Sie waren von Besuchern oder zielstrebigen Mitarbeitern leicht zu unterscheiden. Es war richtig hektisch auf dem Flur. Patienten, Besucher, Personal.
Aber dann wurde es ruhiger. Leon beschloss, die Chance zu nutzen. Bis zur Stationstür waren es knapp zwanzig Meter. Er wollte rennen, hatte aber Angst, zu schnelle Schritte könnten ihn verraten. Also beherrschte er sich und ging ganz langsam, ja schlenderte fast durch den Gang, wie auf der Suche nach einem freien Platz im Eiscafé.
Die Hose rutschte. Er hielt sie mit einer Hand fest.
Dann stand er vor der Frage: Treppe oder Fahrstuhl? Er mochte den Gedanken nicht, unten aus dem Fahrstuhl zu steigen und vor Frau Dr. Stindl zu stehen, die gerade aus der Cafeteria kam. Auf der Treppe konnten ihm auch Leute entgegenkommen, aber da wäre er in der Lage, nach oben zu flüchten.
Also nahm er die Treppe. Dort übte jemand mit Gipsbein auf Gehhilfen das Treppensteigen. Der Radsportler sagte zwar »Moin«, als Leon ihn überholte, sah aber nicht dabei auf und war nur froh, nicht angerempelt zu werden. Der würde sich später bestimmt nicht mal an die schwarze Lederjacke erinnern, dachte Leon.
12
Leon Schwarz atmete draußen tief durch. Vom Hafen her wehte eine Brise Meerluft, geschwängert mit Öl, zu ihm herüber. Er musste an diesen dummen Satz aus der Werbung denken: Der Geruch von Freiheit und Abenteuer.
Irgendwie hatte er diesen Krankenhausduft empfunden wie Gefängnisluft. Erst hier draußen konnte er wieder richtig tief durchatmen.
Er entfernte sich rasch vom Krankenhaus und damit in seiner Vorstellung auch vom Zugriff der Polizei und des Jugendamtes.
Leon durchsuchte die Jacke. In der Innentasche fand er ein Lederportemonnaie. Darin waren der Ausweis von Hassan Özdemir, eine Kontokarte der Sparkasse, eine Visa-Kreditkarte. Ein Ausweis für eine Videothek. Ein Fünfzigeuroschein und ein Zehner. Außerdem drei Euro und zweiundfünfzig Cent Kleingeld. Er wollte das Geld nicht stehlen und auch den Rest nicht.
Er beschloss, nach Hause zu gehen und sich eigene Sachen anzuziehen. Dann würde er ein Päckchen für Hassan Özdemir packen und alles mit einem Dankesbrief, einer Tafel Schokolade und den besten Genesungswünschen ins Krankenhaus schicken.
In seinem Zimmer in der Prager Straße hatte Leon ein Sparbuch mit fast fünfhundert Euro. Das hätte der Grundstock für seinen Führerschein sein sollen, aber jetzt hatte er das Gefühl, er würde das Geld für ganz andere Dinge benötigen. Außerdem hatte seine Mutter eine Haushaltskasse, so nannte sie die Keksdose, in der sie Bargeld aufbewahrte. Und im Eingang bei der Garderobe stand ein Bonbonglas, in das jeder nach dem Einkaufen das Wechselgeld warf.
Einmal im Jahr wurden die Centstücke zur Sparkasse gebracht. Es waren meist über hundert, einmal fast zweihundert Euro im Glas. Er brauchte also Hassan Özdemirs Geld nicht.
Er konnte in den Schuhen nicht richtig laufen, gerade so, als hätte er es verlernt. Die Hose rutschte, und in der fremden Kleidung kam er sich selbst fremd vor. Er begann zu laufen. Es war nicht so, dass er bewusst seinen Beinen den Befehl gab, loszurennen, nein, sie machten es von alleine. Als sei es ihre Entscheidung, nicht seine. Das Gehirn wurde als Kommandozentrale in Frage gestellt. Die Körperteile entschieden scheinbar neuerdings selbst, was sie zu tun
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