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Nachtblauer Tod

Nachtblauer Tod

Titel: Nachtblauer Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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hatten.
    Hoffentlich entlädt sich mein Darm nicht ungefragt, dachte Leon und knickte beim Rennen um. In Schuhen, die nicht passten, sollte man keinen Marathonlauf durch die Stadt beginnen.
    Es war ein komisches Gefühl, sich dem Haus zu nähern. Da war eine nie gekannte Unsicherheit. Seit sie in der Eigentumswohnung lebten, hatte er sich dort immer sicher gefühlt. Seine Schritte wurden, als er in die Prager Straße kam, immer schneller. Er strebte der Wohnung zu. Sie hatte einen ganz eigenen Duft. Seine Mutter kochte gern. Was auch immer sie zauberte, es gehörte viel frisches Gemüse dazu. Ihr Hack- und ihr Wiegemesser auf dem Holzbrett kündigten an: Bald gibt es etwas Gutes.
    Sie kochte gern im Wok. Sein Vater dagegen briet frisch filetierten Fisch grundsätzlich in der Pfanne. Mehr als Zitronensaft, Pfeffer und Salz brauchte er selten, um seinen Fisch zu würzen. Leons Mutter dagegen hatte auf dem Balkon einen ganzen Kräutergarten. Sie pflückte fürs Kochen alles frisch. Ihre Finger rochen oft nach Basilikum, Fenchel, Thymian, Zitronenmelisse, Petersilie oder Oregano. Sie züchtete sogar Safrankrokus selbst. Drei zart duftende weiße Blüten standen auf dem Balkon. Sie erntete die rötlichen Narben im Inneren der Blüte. Leon sah sie vor sich, wie sie sagte: »Safran ist das teuerste Gewürz der Welt. Manchmal teurer als Gold. Aber im Gegensatz zu Gold kann man es selbst anpflanzen.«
    Seine Mutter sollte tot sein? Plötzlich kam es ihm vor wie ein schlechter Witz. Es war alles gar nicht wahr. Ein Horrortrip durch irgendeine chemische Droge. Deshalb war er auch im Krankenhaus wach geworden. Sein Vater verhaftet … so ein Quatsch! Gleich würde er die Haustüre öffnen und schon im Flur das Essen riechen. Vater war angeln, also gab es vermutlich Fisch. Ein paar Forellen … Hauptsache, keinen Aal. Aal mochte Leon nicht so gern, aber heute würde er mit Freuden in jedes noch so fettige Stück Aal beißen, wenn sich nur alles als Albtraum entpuppen würde.
    Trotz der irren Hoffnung wurden seine Schritte immer schwerer. Auch die Motorradjacke war plötzlich bleischwer. Er schaffte es kaum, sich in ihr fortzubewegen. Sie zog ihn runter wie eine Ritterrüstung mit Kettenhemd, aber er bezweifelte, dass sie so gut schützen konnte. Er schwitzte unter der Jacke, und seine Füße schwammen in den Schuhen.
    Der Postbote auf der anderen Straßenseite stellte gerade sein Fahrrad ab. Leon schob den Kragen der Lederjacke hoch. Er wollte von ihm nicht erkannt werden. Der war wie ein lokaler Nachrichtensender ohne Musikunterbrechung.
    Leon kam sich lächerlich vor, wie ein Agent als Comicfigur. Er sah sich nach rechts und links um. Er wurde nicht verfolgt. Aber auf dem Bürgersteig kam ihm ein Radfahrer entgegen. Es war Olli, vermutlich der einzige Mensch in Bremerhaven, der noch nichts von dem »schrecklichen Familiendrama« gehört hatte. Er klopfte im Vorbeifahren auf Leons Rücken: »Scharfes Outfit, Alter. Hätte dich fast nicht erkannt.«
    Damit brach Leons Hoffnung zusammen, unerkannt ins Haus zu kommen.
    Frau Schröder aus der Parterrewohnung links saß wie so oft mit einer Tasse Tee in ihrem Ohrensessel am Fenster. Die Knie wärmte sie sich an der Heizung, und sie beobachtete das Geschehen vorm Haus. Der neue Postbote war ihr nicht geheuer. Er brauchte viel zu lange, kam fast zwei Stunden später als sein Vorgänger und roch nach Weinbrand und kalter Zigarrenasche.
    Sie hätte sich nie mit einem Kissen unter dem Arm ins Fenster gelegt, wie andere es taten. Dazu war sie eine zu feine, gebildete Frau. Aber neugierig war sie eben auch. Leon sah ihre silbergrauen Haare hinter der Gardine verschwinden.
    Leons Vater hatte einmal bei einer seiner Nachtangeltouren seinen Türschlüssel verloren. Als er morgens mit einem Hecht nach Hause kam, fröhlich, schmutzig und leicht angetrunken, hatte er alle aus dem Bett geklingelt, um hereingelassen zu werden. Seitdem war in einem leeren Blumentopf in der Garage immer ein Reserveschlüssel deponiert. Den holte Leon jetzt.
    Die Garage lag im Hinterhof. Von hier aus hätte er auch auf den Balkon klettern können und von dort in die Wohnung. Aber er holte lieber den Schlüssel, denn der Balkon führte zu dem Zimmer, in dem seine Mutter ermordet worden war. Das wollte Leon sich jetzt nicht antun. Ihm war mulmig zumute bei dem Gedanken, diesen Raum zu betreten. Er wollte nur in sein Zimmer, er brauchte frische Kleidung und Geld. Er wusste noch nicht, wie es dann weitergehen

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