Nachtblauer Tod
durch und zog sich dort um. Die Lederjacke behielt er an. Sie gefiel ihm immer besser.
Er atmete durch und sagte sich selbst: Renn nicht die ganze Zeit, das fällt auf. Beweg dich wie die anderen. Schlendere ruhig, als wärst du auch ein Tourist.
Als er von der Toilette kam, ging er an der Kuchenauslage des Cafés vorbei. Jetzt spürte er den Hunger wie ein wildes Tier in sich, fordernd und bissig. Er stellte die Sporttasche neben sich ab und bestellte zwei Stücke Kirschkuchen mit Sahne. Danach aß er noch zwei Wiener Würstchen mit Senf. Dazu trank er eine Cola.
Seine Mutter hätte sich zum Kuchen garantiert einen Latte Macchiato bestellt und sein Vater einen doppelten Espresso.
Sofort wurden Leons Augen wieder feucht. Nein, er durfte jetzt nicht an sie denken. Das lähmte ihn zu sehr. Er brauchte einen Plan. Er musste irgendwo schlafen, und dann musste er Kontakt zu seinem Vater aufnehmen.
Leon starrte vor sich hin. Er sah die Schülerin nicht, die ihn verliebt anguckte und ihre Freundin fragte, ob sie nicht noch ein bisschen bleiben könnten, weil der Typ mit der schwarzen Lederjacke so schnuckelig aussah. Er hatte etwas an sich, das in Stefanie Rother Beschützerinstinkte weckte. Er wirkte so, als hätte er Hilfe nötig und bräuchte dringend eine Freundin, der er sich anvertrauen konnte. Stefanie wäre zu gern diese Freundin gewesen, aber er sah einfach durch sie hindurch.
Wie muss mein Vater sich fühlen, dachte Leon. Wenn ich an seiner Stelle wäre, dann wäre das Wichtigste für mich, zu wissen, dass man mir glaubt. Ja, das bräuchte ich am meisten. Dass mein Vater mir glaubt und mich liebt. Dass er sich nicht durch dumme Anschuldigungen bevormunden lässt. Dass für ihn meine Unschuld feststeht, egal, was alle anderen reden.
Genau das wollte Leon seinem Vater geben. »Ich liebe dich auch«, sagte er leise vor sich hin, so als würde sein Vater vor ihm sitzen. Vielleicht, so hoffte Leon, fühlte er, dass sein Sohn in diesem Augenblick liebevoll an ihn dachte.
Stefanie konnte die Worte von seinen Lippen lesen. Er hatte eindeutig »Ich liebe dich« gesagt. Falls er damit nicht die Colaflasche vor sich gemeint hatte – was unwahrscheinlich war –, dann hatte er sie angesprochen. Ihr wurde heiß und kalt. Sie stupste ihre Freundin an, die schon vor einer Viertelstunde am liebsten gegangen wäre. »Hast du das gesehen?«
»Was denn?«
»Der hat gesagt: ›Ich liebe dich.‹«
»Nimmst du Drogen oder was? Was hast du dir in den Kaffee getan? War das wirklich Zucker?«
»Hast du ein Problem damit, dass mal einer auf mich steht und nicht immer nur alle hinter dir her sind?«
»Auf den Trauerkloß da kann ich gut und gern verzichten.«
»Ich find ihn süß. Er ist nur ein bisschen schüchtern.«
»Schüchtern, ja? Sagt dir angeblich mitten im überfüllten Café über zehn Meter Entfernung hinweg ›Ich liebe dich‹, obwohl er dich gar nicht kennt. Wenn der schüchtern ist, wie stellst du dir dann einen Draufgänger vor?«
Leon kritzelte mit dem Stift aus der Jacke auf der Serviette herum. Er malte ein Haus. Sein Elternhaus. Ein Bett mit einer Frau darin. Einer toten Frau. Seiner Mutter.
Er schrieb »Ich liebe dich so sehr«, dann trank er die Cola aus und wischte sich über die Lippen.
Stefanie fragte sich, ob sie sich nicht ein Stückchen Sahnetorte holen sollte, sie könnte damit an ihm vorbeigehen und es ihm versehentlich auf diese irre Motorradjacke kippen. Bestimmt würden sie so ins Gespräch kommen. Sie würde sich entschuldigen, er würde die Entschuldigung annehmen. Sie würde, untröstlich über das Missgeschick, einen Kaffee ausgeben und ihn fragen, ob er schon mal im Auswanderermuseum oder im Klimahaus gewesen sei. Es gab viele spannende Sachen, die man in Bremerhaven machen konnte, bevor man anfing zu knutschen.
Als er an ihr vorbeiging, war Stefanie sich sicher, dass er ihr zugezwinkert hatte. Sie ging zu seinem Tisch. Er hatte dort eine Serviette liegen lassen. Sie ging davon aus, dass er seine Telefonnummer für sie darauf geschrieben hatte.
Sie nahm die Serviette, und da stand tatsächlich: »Ich liebe dich so sehr.« Überglücklich drehte sie die Serviette um und sah die Frau im Bett mit dem Messer in der Brust.
Erschrocken sah sie ihm hinterher, aber er war schon in der Menge verschwunden.
15
Leon wollte sich zunächst ein Handy und eine Prepaidkarte besorgen. Seines hatte ja die Polizei. Aber er entschied sich im letzten Moment dagegen und kehrte wieder um, bevor er
Weitere Kostenlose Bücher