Nachtblauer Tod
ging es mitten in einem anderen Satz weiter. Es musste wenigstens eine Seite fehlen, vermutlich waren es sogar mehrere. Die Kopien waren nicht sehr gut. Die Seiten hatten so auf dem Kopiergerät gelegen, dass die unteren Teile abgeschnitten waren. Die Seitenzahlen fehlten. Leon begriff, das war kein Zufall. Er sollte hinters Licht geführt werden.
Er riss die Tür auf. Die Sekretärin saß mit dem Rücken zu Leon. Sie hatte ein Headset auf und tippte ein Diktat. Ihre langen braunen Haare wirkten wie der Schweif eines Ponys. Rechts neben ihrem Computer stand ein Becher Kaffee mit der Aufschrift: Die Welt wird von Dummheit regiert, und hier ist die Zentrale.
Links daneben lagen zwei Müsliriegel. Einer davon, der mit Haselnuss, war angebissen.
Sie bemerkte Leon nicht, sie war ganz auf ihre Arbeit konzentriert, doch als Leon an ihr vorbei in Summerers Büro stürmen wollte, sprang sie auf, riss dabei mit dem Kabel vom Headset ein Abspielgerät vom Tisch und fegte den Kaffeetopf auf den Boden.
Sie war flink. Sie trainierte in einem Judoverein und war stolze Trägerin des grünen Gürtels, und genau das bekam Leon jetzt zu spüren. Sie stoppte ihn, bevor er die Tür zum Besprechungszimmer erreicht hatte. Mit einem Lächeln und einem unangestrengten Gesichtsausdruck verdrehte sie Leons Arm so, dass der Schmerz seine Wirbelsäule glühen ließ. Er wagte nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, weil er befürchtete, dadurch seinen Schmerz nur zu vergrößern.
»Nicht so eilig, junger Mann. Herr Summerer hat Klientenbesuch.«
»Lassen Sie mich los! Sie tun mir weh.«
»Das glaube ich gerne, aber ich habe dafür zu sorgen, dass Herr Summerer seine Gespräche ungestört führen kann. Das heißt, ich erledige die Post für ihn, fange Anrufer ab und manchmal eben auch ungestüme Besucher.«
Sie erhöhte kurz den Druck, was Leon aufheulen ließ. Diese zierliche Frau war eine wahre Kampfmaschine.
»Du kannst mir sagen, was du zu sagen hast. Herrn Summerer musst du in Ruhe lassen.«
Ohne weitere Vorwarnung ließ sie Leon los. Fast wäre er gestürzt, so sehr brachte die plötzliche Erlösung von der Starre ihn aus dem Gleichgewicht. Er suchte den größtmöglichen Abstand zu ihr im Raum und zupfte seine Kleidung zurecht.
»Es fehlen die wichtigsten Seiten in den Akten. Was soll das? Halten Sie mich für bescheuert? Wer will mich warum reinlegen?«
Sie hob das Diktiergerät auf, riss Papier von einer Haushaltsrolle und wischte den verschütteten Kaffee auf. »Sieh nur, was du angerichtet hast. Herr Summerer wollte dir helfen, hat mit allen geredet, damit du Akteneinsicht bekommst … und du …«
Leon wiederholte seine Frage eindringlich: »Wer will mich warum reinlegen? Und wieso spielt der Anwalt meines Vaters da mit?«
Sie räusperte sich und sprach leise weiter: »Dein Vater wollte es so. Aber mehr darf ich darüber nicht sagen. Ich habe die Seiten rausnehmen müssen, auf denen … naja, die eben nicht für deine Augen bestimmt sind.«
Leon schimpfte los: »Meine Mutter wurde umgebracht! Ich habe ein Recht, die Wahrheit zu erfahren!«
»Mehr darf ich dir wirklich nicht sagen. Alles andere musst du mit Herrn Summerer besprechen.«
»Ja, Sie lassen mich doch nicht zu ihm!«
»Im Moment auf jeden Fall nicht. Später … wenn er seine Termine erledigt hat, gerne.«
Kopfschüttelnd käute Leon den Satz wieder: »Mein Vater wollte es so?«
»Also«, sagte sie zaghaft und sah gar nicht mehr wie eine durchtrainierte Kampfmaschine aus, »also, ich verstehe sehr gut, dass Eltern nicht alle intimen Details ihres Ehelebens vor ihren Kindern ausbreiten wollen.«
Leon fasste sich an den Kopf und stöhnte: »Ach, geht es um diesen Jörg Parks?«
Die Sekretärin verzog keine Miene.
»Das wusste ich doch längst, ich war sogar schon bei der Polizei deswegen.«
Ihm wurde klar, dass er seinen Vater dringend noch einmal sprechen musste. Er machte ein freundliches Gesicht und fragte, ob sie nicht einen neuen Besuchstermin heraushandeln könnte.
»Es gibt immer irgendwelche Sonderregelungen. Es ist praktisch nichts unmöglich. Aber auch das musst du mit Herrn Summerer besprechen.«
Leon entschuldigte sich für seinen ungestümen Auftritt und zog sich wieder in das kleine Zimmer zu den Akten zurück.
Er sah vor dem Fenster eine getigerte Katze, die wegsprang, als sie sein Kommen bemerkte, und in der Sekunde durchschoss ihn ein Gedanke wie eine Gewehrkugel: Natürlich! Der Täter war durch die Balkontür
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