Nachtblauer Tod
sondern ließ sie stehen wie bestellt und nicht abgeholt. Kommissarin Schiller fiel so etwas schwer, aber sie wusste genau, warum Büscher das tat. Die Körperhaltung von Menschen verriet viel. Stefanie Rother stand völlig ungeschützt im Raum. So würden die Kommissare jede noch so kleine Unsicherheit bemerken.
Stefanies rechtes Bein zitterte vor Aufregung. Sie hatte ihr Gewicht voll auf das linke verlagert. Es sah aus, als würde sie in ihrer Kleidung hängen. Sie schien zur Seite zu kippen und nur durch Jeans und Sweatshirt stabilisiert zu werden.
»Nein«, sagte Stefanie, »er hat die Serviette auf dem Tisch liegen lassen.«
Der Satz hing irgendwie in der Luft, als müsse ihm noch etwas folgen.
»Ach, und dann hast du sie dir genommen?«
»Hm.« Sie biss sich nervös auf die Unterlippe. Sie schämte sich.
»Warum?«
»Weil …« Sie schaffte es nicht, den Kommissar anzusehen, es fiel ihr leichter, kurz Blickkontakt mit Birte Schiller aufzunehmen. »Weil ich dachte, er hätte mir seine Telefonnummer aufgeschrieben.«
Kommissar Büscher schaute zur Decke.
Schiller versuchte, Leichtigkeit ins Gespräch zu bringen. »Ihr habt geflirtet?«
»Ja, mit den Augen. Er saß ein paar Tische weiter.«
»Und«, hakte Büscher nach, »hast du mit ihm geredet? Hat er dir etwas erzählt, was du uns mitteilen möchtest?«
Kommissarin Schiller sah es Büscher an. Er glaubte, ja, er hoffte, dass Leon der Schülerin sein Herz ausgeschüttet hatte. Wahrscheinlich wusste der Junge viel mehr, als er zugab. Vielleicht hatte er Stefanie gegenüber eine Vermutung geäußert oder gar ein Geständnis gemacht.
»Nein, Herr Kommissar, ich habe kein Wort mit ihm gesprochen. Alles, was ich habe, ist diese Serviette.«
»Und du bist zu uns gekommen, weil du dir Sorgen um ihn machst?«, fragte Birte Schiller freundlich.
Stefanie Rother nickte stumm und verlagerte ihr Gewicht aufs andere Bein. Gleich begann das linke zu zittern. Die Aufregung musste irgendwo raus.
»Oder dachtest du, es sei eine Drohung? Die Ankündigung einer Tat?«
Die Frage ließ Stefanie zusammenzucken. »Nein! Natürlich nicht! Ich mache mir nur Sorgen. Ich dachte …«
Kommissarin Schiller schüttelte missbilligend den Kopf, als Büscher sie ansah. Sie fand seine Frage völlig abwegig.
»Vielleicht«, sagte Stefanie, »vielleicht braucht er ja Hilfe.«
»Wir kennen ihn. Nett, dass du uns informiert hast.«
Wieder warf Büscher seiner Kollegin einen Blick zu, der wie eine Rüge wirkte oder ein Eintrag in die Personalakte.
29
Jessy war wie ausgewechselt. Gemeinsam tranken sie viel zu starken Kaffee, der Leon sofort den Schweiß auf die Stirn trieb. Jessy lachte ihn aufgeräumt freundlich an und prostete ihm mit der Kaffeetasse zu, als sei ihr Wutausbruch von vorhin einfach vergessen.
Sie luden die Fotos auf Maiks PC mit dem extra großen Bildschirm. Ben, Maik und Jessy drängten die Köpfe dicht zusammen. Maik zog Leon dazu.
Jetzt begriff Leon, warum Jessy plötzlich so nett war. Sie waren so etwas wie ihr Testpublikum. Ihre Meinung war wichtig. Maik und er waren nicht an der Herstellung der Aufnahmen beteiligt gewesen, damit kam ihrem Urteil eine große Bedeutung zu.
Er erschrak fast, als er Jessys Gesicht auf dem Display sah. Ihr Kopf war größer als in Wirklichkeit. Die Farben brillant. Das Bild schien zu leben. Jessy strahlte den Betrachter auf eine entwaffnende Art an. Man musste dieses Gesicht einfach mögen, fand Leon.
Ben klatschte vor Freude in die Hände.
Das nächste Foto zeigte Jessy schon in Wut.
Ben hatte recht behalten. Die zornige Jessy war wunderschön. Sie sprühte geradezu vor Energie. Leon wollte sagen, wie schön er Jessy fand, aber etwas hinderte ihn. Hörte sich das nicht nach blöder Anmache an?
Da stupste Ben ihn an. »Ist sie nicht phantastisch?«
Leon nickte nur. Etwas anderes verblüffte ihn noch mehr als Jessys Schönheit. Es war die Tatsache, dass Ben tatsächlich immer nur Jessys Gesicht fotografiert hatte, nie ihren Körper. Kein Betrachter dieser Bilder wäre je auf die Idee gekommen, dass das Fotomodell nackt hinter einem Bettlaken gestanden hatte.
Ein paar Aufnahmen, die Ben und Leon großartig fanden, wollte Maik aussortieren. Sie protestierten, und Jessy wollte wissen, was mit den Fotos nicht stimmte.
»Guck ich blöd? Bin ich nicht ausdrucksstark genug?«
»Nein«, beruhigte Maik sie. »Du bist perfekt. Aber schau genau hin. Hier ist eine Unschärfe, die aus der Bewegung heraus kommt. Hier macht der
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