Nachtblauer Tod
geschüttelt.
Leon war schon bei Johanna. Er wollte sie vorsichtig herunterlassen und aus ihrer misslichen Lage befreien, doch er sah immer weniger. Fast blind tastete er sich durch den Raum.
Obwohl Johanna übel geknebelt war, versuchte sie, ihn mit Geräuschen zu leiten. Schreien konnte sie nicht, aber es gelang ihr, blubbernde Brummtöne auszustoßen. Gedämpft durch das Teppichklebeband hörte es sich an, als ob ein Höhlentier vor Angst knurrend sein Revier verteidigen wollte. Maik machte mit seinem Hustenanfall viel Lärm und erschwerte die Orientierung für Leon.
Im Grunde sah Leon nichts mehr. Er konnte nur noch Hell und Dunkel unterscheiden. Aber auch da war er sich nicht sicher.
Er folgte ganz seinem Gehör. Er glaubte, noch ein paar Meter von Johanna entfernt zu sein, aber da krachten ihre Köpfe schon zusammen. Glücklich betastete er ihr Gesicht und knibbelte das Klebeband ab. Die Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit. Er hatte Angst, Johannas Haut mit abzureißen. Er spürte ihr Zittern und ihre Schmerzzuckungen.
Aber dann spuckte sie und kreischte! Sie war voller Kampfgeist. »Lass mich runter! Ich will hier runter! Mach meine Hände los! Schnell, bevor er wieder auf die Füße kommt!«
Leon wusste, dass ein Seilende irgendwo an der Wand befestigt sein musste, aber blind, wie er war, traute er sich nicht zu, es zu finden.
Er wollte erst Johannas Hände befreien. Das war einfacher, als er gedacht hatte. Ihre Hände waren nicht so empfindlich wie ihre Gesichtshaut und ihre Finger halfen kräftig mit.
Dann dirigierte sie Leon durch den Raum zu dem Seilende an dem Haken an der Wand. »Links. Mehr nach links! Ja. Jetzt zwei Schritte geradeaus. Pass auf, vor dir hängt eine Kette von der Decke. Vorsicht! Ja. So. Heiß, heiß! Nein, kalt. Mehr nach links. Nein, so weit nicht.«
Johanna war ganz darauf konzentriert, Leon zu leiten und Leon achtete nur noch auf ihre Stimme, aber die war auch ein deutliches Signal für Maik, der sich erhoben hatte und in ihre Richtung stolperte.
Er hatte inzwischen seine Atmung wieder unter Kontrolle, konnte aber auch nicht richtig sehen.
»Ich hab’s! Gleich bist du frei!«, rief Leon und versuchte, das Seil zu lösen.
Maik fuchtelte mit seinem Elektroschocker in der Luft herum und griff Leon damit an.
Der Stromschlag lähmte Leon sofort. So musste es sich anfühlen, wenn man von einem Blitz getroffen wurde. Leon brach zusammen.
Hängend versuchte Johanna, Sit-ups zu machen, um mit den Händen die Fußfesseln zu erreichen. Sie war sportlich genug, um es zu schaffen. Sie befreite sich selbst. Als sie auf dem Boden auffederte, verstauchte sie sich den Fuß. Sie ignorierte den Schmerz und sprang Maik von hinten an, um ihn in den Würgegriff zu nehmen, aber ihr Kreislauf war noch nicht auf solche Aktivitäten eingestellt. Schließlich hatte sie fast eine Stunde lang mit dem Kopf nach unten an der Decke gehangen.
Ihr wurde schwindelig. Maik verpasste ihr einen Fausthieb. Dann taumelte er zur Tür. Offenbar hatte er seinen Plan geändert. Wollte er fliehen?
Leon krümmte sich mit Herzrasen am Boden und hatte die Kontrolle über seine Muskeln verloren. Trotz der lebensbedrohlichen Lage fragte er sich, ob er in die Hose gemacht hatte. Es wäre ihm vor Johanna peinlich gewesen. Selbst jetzt.
Maik torkelte auf den »Love-in«-Parkplatz zu. Er schrie: »Hilfe! Hilfe! Ich bin überfallen worden! Hilfe!«
»Jetzt ist er restlos durchgeknallt«, sagte Johanna erleichtert.
Aber Leon ahnte, dass sie gleich mit einer weiteren Teufelei von Maik konfrontiert werden würden. Sozusagen mit seinem Plan B. Doch im Augenblick war Leon nicht einmal in der Lage, zu sprechen. Er konnte sich zwar schon wieder bewegen und die Schockwirkung ließ nach, aber noch immer zuckten seine Muskeln unkontrolliert.
Johanna half Leon auf die Beine. »Wir müssen die Polizei rufen, Leon! Hast du dein Handy? Leon? Verstehst du mich?«
»Er … er hat … es mir … a … abgenommen …«
Wenn er sprach, zitterte er noch mehr. Es war für ihn, als würden Zunge und Sprechzentrum im Gehirn alle Energie aus seinem Körper aufsaugen und für ihre Aktivitäten verbrennen. Trotzdem war es ihm wichtig, die Sprache zurückzugewinnen.
»Was hat er vor, was passiert als Nächstes?«, fragte Johanna und fügte dann hinzu, als würde es ihr erst jetzt bewusst: »Das Schwein wollte mich erstechen.«
»Ja … Wir … Wir müssen …«
»Wie deine Mutter.«
»Hm.«
»Wir müssen die Polizei
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