Nachtblind
…«
»Eine andere Bindung, der Sie sich verpflichtet fühlen?«
»Nein, nicht wirklich«, sagte er. »Aber … ich sitze sozusagen zwischen allen Stühlen.«
»Nun, ich weiß jedenfalls, dass Sie nicht schwul sind. Die Art, wie Sie mich ansehen …«
»Nein, das ist nicht das Problem.« Aber es war lange her … Er erinnerte sich, wie er abends vor seiner Hütte am See gestanden und zum verwaschenen Streifen der Milchstraße hochgeschaut und sich durchaus nicht unbedeutend, aber doch sehr einsam und allein gefühlt hatte.
»Es geht nur um ungezwungenen Sex, der zu nichts verpflichtet, Lucas«, sagte sie. »Eine Art Therapie …«
»Vielleicht bin ich ja immer noch zu katholisch. Und außerdem, was ist mit den Verkäufern in dem Krimi-Laden? Sie müssen was verkaufen. Können Sie es verantworten, dass ihre Kinder Hunger leiden müssen?«
»Erinnern Sie sich, wie das ist? Sie sitzen in der Badewanne, haben eine Frau zwischen den Beinen, alles ist glitschig und schlüpfrig, und Sie haben die Seife in der Hand …« Sie lachte ihn strahlend an.
Lucas ließ den Wagen zurückrollen, wieder vor, wieder zurück, wieder vor, und dann sagte er: »Okay …«
»Gute Entscheidung«, sagte sie. »Zum Teufel mit den Leuten im Buchladen.«
Sie lachte wieder laut, aber später an diesem Abend sagte sie ernst: »Jetzt habe ich drei Stunden kaum an Amnon
gedacht …«
22
Donnerstag. Tag sechs im Mordfall Alie’e Maison.
Frank Lester ging mit einer braunen Sandwichtüte die Treppe zum Präsidium hoch, als Lucas, im kalten Dämmerlicht große Atemwolken ausstoßend, eilig zu ihm aufschloss. »Mortadella-Sandwiches?«
»Erdnussbutter und Marmelade«, antwortete Lester und hielt die Tüte hoch; er trug Ski-Handschuhe. »Wie ich gehört habe, sind Sie bis spät nachts mit Jael Corbeau ausgegangen …«
»Ja, es ist bei unserem Bummel durch die Stadt ein wenig spät geworden«, sagte Lucas ausweichend. »Sie wäre am liebsten gar nicht wieder in ihr Haus zurückgekehrt.«
»Es hat keinerlei verdammten Fortschritt gegeben. Nicht bei Corbeau, nicht bei Kinsley. Wahrscheinlich sind wir in den Arsch gekniffen. Wahrscheinlich ist Olson nicht der Mann, den wir suchen. Er wandert jeden Abend durch verschiedene Kirchen und hält Predigten. Die Jungs, die ihn beobachten, sagen unisono, er sei total beknackt, aber die Leute in den Kirchen lieben und verehren ihn. Gestern Abend hat er doch tatsächlich eine Stigma-Blutung gehabt …«
»Ach was, Mann … So einen Quatsch gibt’s doch gar nicht!«
»Keine Ahnung, wie er das gemacht hat. Vielleicht hat er eine kleine Rasierklinge im Gürtel versteckt oder so was, aber unsere Leute sagen, er sei plötzlich in eine Art Ekstase verfallen, habe die Arme hochgereckt und wie wild geschrien, und dann sei plötzlich Blut aus seinen Handflächen gesickert, und an der Seite habe sich auf seinem Hemd ein roter Fleck gebildet, dort, wo … Sie wissen schon – wo die Speerspitze eindrang.«
»Jesus …«
»Ja, richtig … Wie läuft’s mit Rodriguez?«
»Wir haben gestern Abend auf den Knopf gedrückt«, antwortete Lucas. »Vielleicht tut sich heute was.«
»Wollen wir’s hoffen.« Lester sah an Lucas vorbei, und Lucas drehte sich um. Ein TV-Aufnahmewagen stand mit laufendem Motor am Straßenrand. »Ich hoffe, sie peilen uns nicht mit einem Richtmikrofon an.«
»Dann sei Gott den Typen gnädig«, knurrte Lucas. »Ich würde sie vor den Kadi schleppen, und bei einem vernünftigen Richter kämen sie für drei Jahre in den Knast.«
»Ja.«
Sie schauten noch für einige Sekunden zu dem Van hinüber –keine Bewegung zu erkennen, nur die Auspuffwolke –, dann gingen sie ins Gebäude.
Lane kam herein, zehn Minuten nach Lucas’ Ankunft im Büro. »Wir brauchen einen amtlich zugelassenen Buchprüfer, der sich die Papiere von der Bank ansieht«, sagte er. »Ich habe die Sache auf ein paar Fragen eingeengt, aber diese Fragen kann nur ein Experte beantworten.«
»Und wie lauten die Fragen?«
»Wieso hat Spooner ihm die Hypothekendarlehen gewährt? Das ist die Kernfrage. Wenn ich zu denselben Bedingungen eine Hypothek auf ein Wohnhaus bekommen hätte, würde ich an einem der Seen residieren. Diese Darlehen stinken nach Gemauschel.«
Lucas lehnte sich zurück. »Verstehst du jetzt, warum ich dich und keinen anderen gebeten habe, die Papiere zu studieren?«
»Ich würde lieber irgendeinem die Eier zerquetschen. Besorg mir also den Buchprüfer, und dann gehe ich zu Spooner
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