Nachtblind
vorstelle, er könnte ein Drogendealer sein, dann …« Er öffnete und schloss den Mund mehrmals hintereinander, als ob ihm dieser Gedanke die Luft abschnüren würde. »Ich meine, ich kann es einfach nicht glauben. Er ist ein netter Kerl.«
»Dann erzählen Sie mir doch mal ein Beispiel für etwas Nettes, das er getan hat«, sagte Lucas.
»Nun …« Spooner schien sein Gehirn zu durchforschen, sagte dann: »Mir fällt im Moment kein Beispiel ein, aber er war in unserem Haus zu Gast, und er war nett zu meiner Frau, und er ist stets nett zu anderen Leuten … Ich meine, er ist ein Mann, mit dem man gern beisammen ist und ein Gläschen trinkt.«
»Nun ja«, sagte Lucas, »wir werden das in unseren Herzen bewegen …«
Im Wagen sagte Sloan: »Also ein netter Kerl.«
»Mann, er ist ein Dope-Dealer. Andere Dealer wissen das von ihm – sie zeigen auf sein Foto, wenn man ihnen eine ganze Serie zur Auswahl vorlegt. Und wenn man diese Darlehen betrachtet … Rodriguez ist ein verdammter Gangster.«
»Und dazu ein netter Kerl«, sagte Sloan.
»Erinnerst du dich an Dan Marks?«, fragte Lucas.
»O ja, das war echt ein netter Kerl.«
»Alle meinten das, bis man seine Mülltonne untersuchte und der Ärger losging.«
»Ja. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass man so was Scheußliches nur mit den Fingernägeln anrichten kann«, sagte Sloan. Auf dem Weg nach St. Paul unterhielten sie sich noch einige Zeit über die mörderische Effizienz von Fingernägeln.
Rodriguez war in seinem Büro. Man hatte einen anderen Streifenpolizisten in einen Sportmantel gesteckt und zu Rodriguez’ Beobachtung auf der Fußgängerbrücke postiert. Er trat von einem Fuß auf den anderen und aß Popcorn aus einer großen Familienpackung. »Hey, Kollegen«, sagte er, als Lucas und Sloan bei ihm ankamen. Er sah auf die Popcornschachtel in seiner Hand und erklärte: »Geschenk von den St.-Paul-Kollegen. Ihr Wachlokal ist ganz in der Nähe.«
»Was macht unser Mann?«, fragte Lucas.
»Arbeitet am Computer. Er ging mal eine Weile weg, und ich verlor ihn aus den Augen, aber dann kam er zurück.«
»War er mit seinem Wagen weg?«
»Nein, er ist nach hinten ins Gebäude gegangen, wohin, weiß ich nicht. Sie sehen ja den Eingang des Gebäudes da drüben … Die Tür zu seinem Büro mündet in den Korridor dahinter. Als er plötzlich seinen Mantel anzog, rannte ich nach unten, aber er war bereits aus dem Büro in den Flur gegangen, und als ich dort ankam, war er nicht mehr zu sehen. Ich lief also zur Ausfahrt des Parkhauses und wartete darauf, dass er rausgefahren kommt … Aber er kam nicht, und als ich schließlich wieder in sein Büro schaute, saß er am Schreibtisch.«
»Er war also irgendwo im Gebäude.«
»Ja, aber es gibt von da unten ja einen Zugang zur Fußgängerbrücke, und wenn er den benutzt hat, während ich unten war, kann er auch woanders hingegangen sein. Er war ungefähr zwanzig Minuten weg.«
»Er zog den Mantel an …«
»Ja.«
Sie dachten einige Zeit darüber nach, fanden aber keine Lösung außer der, dass er mit ziemlicher Sicherheit nicht zum Klo gegangen war.
»Wir brauchen mehr Leute hier«, sagte Lucas.
»Ja, wenn wir es ernst mit der Überwachung meinen«, stimmte der Cop zu. »Wenn er mit dem Wagen weggefahren wäre, hätte ich Schwierigkeiten bekommen; ich hatte meinen Wagen am Straßenrand abgestellt, und wenn er aus dem Parkhaus gekommen und in die falsche Richtung davongefahren wäre, hätte ich fünf Meter hinter ihm eine sehr auffällige Kehre machen müssen.«
Lucas sah Sloan an und sagte: »Also mehr Leute.«
»Und bald«, bat der Cop. »Ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten.«
Rodriguez entsprach nicht den Vorstellungen, die Lucas sich von ihm gemacht hatte. Er war kein Latino – sah nicht aus wie ein Latino, sprach nicht wie ein Latino. Er sprach auch nicht wie ein Drogenhändler. Die meisten Dealer treten mit einem Anflug von Macho-Gehabe auf, und wenn nicht das, dann mit einem Anflug von plump vertraulicher Redseligkeit.
Rodriguez sah aus und klang wie ein weißer Geschäftsmann der Mittelklasse, der aus den Tiefen der Arbeiterklasse aufgestiegen ist und den Schweißgeruch seiner Herkunft nicht ganz losgeworden ist. Er war groß, hatte einen Stiernacken, einen Speckwulst um die Hüfte und rundliche Schultern. Vielleicht trank er zu viel, und wenn das der Fall war, dann wohl Bier, und wenn nicht Bier, dann stärkere Sachen – Wodka-Martinis mit Partyzwiebeln zum Beispiel.
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