Nachtblüten
eine verlassene nächtliche Autobahn ist ein trister Ort, ein Niemandsland, dachte der Maresciallo, während er in der dunklen Schwüle auf die Ambulanz wartete. Nur zwei Paar Scheinwerfer und das rotierende Blaulicht auf dem Dach von Eins Eins Sieben erhellten die stille Szene und beleuchteten Bäume, einen Strommasten, einen Mann, der sich auf dem Grünstreifen erbrach, eine Straßensperre weiter unten an der dunklen Fahrbahn, Bäume, das Auto, das eingedellt und mit verbeulter Stoßstange quer über der Trennlinie zwischen zwei Fahrspuren stand, Bäume, einen Strommasten, einen Mann, der sich erbrach, eine Straßensperre… Unter dem Wagen mit der verbeulten Stoßstange hatte eine Taschenlampe eine sich rasch ausbreitende Blutlache aufgespürt, die offenbar von einer Schädelwunde des Mädchens herrührte. Jemand hatte an ihrem Hals nach dem Puls getastet und ihn, wenn auch schwach, gefunden. Keiner wagte es, sie oder das Auto zu bewegen. Das Mädchen verblutete.
Der Maresciallo sagte nichts. Aber er atmete leichter, als der Rettungswagen und die Feuerwehr eintrafen und mit ihnen gleißendes Licht, Betriebsamkeit, Stimmengewirr.
Sie sagten, das Mädchen sei nicht eingeklemmt, und der Wagen wurde zur Seite geschoben. Sie sagten, das Mädchen lebe noch, und ein Arzt legte ihr eine Infusion und hielt eine Flasche mit farbloser Flüssigkeit über ihr hoch. Man hob sie auf eine Trage, und der Maresciallo erhaschte einen flüchtigen Blick auf das kleine, weiße Gesicht. Ihr Körper schien zu schlaff und formlos für den eines lebenden Menschen. Und doch sagten sie, sie sei am Leben.
Die leise pendelnden, zarten Glieder beschworen eine Erinnerung an seinen Vater herauf, wie er den leblosen, aber noch warmen Kadaver eines Kaninchens seiner Mutter zum Abbalgen auf den Küchentisch warf. Er sah einen Schädelsplitter so weiß wie ihr kleines Gesicht. Sie wirkte zu jung, um nachts allein auf der Straße zu sein. Wenn sie nur, als sie benommen, aber offenbar nicht ernstlich verletzt, aufgestanden war, zwei Schritte in die andere Richtung gemacht hätte, dann wäre sie auf dem Grünstreifen gewesen, als das Auto kam. Aber sie hatte es nicht getan. Vermutlich angezogen durch die Scheinwerfer, die Gestalt des Maresciallos, der ihr den Arm entgegenstreckte, war sie auf ihn zugegangen, mit einem Wort auf den Lippen, das er nicht hören konnte, und mit einem Lächeln.
6
E s hat wirklich keinen Sinn, daß Sie noch länger warten – es sei denn, Sie könnten uns helfen, sie zu identifizieren.« Wie vorauszusehen, hatte man bei dem Mädchen keine Papiere gefunden.
»Noch weiß ich auch nicht, wer sie ist, aber ich glaube, etwas später werde ich es Ihnen sagen können.« Als man sie von der Sanitätsauf eine Krankenhaustrage umbettete, hätte der Maresciallo die Schwester gern nach den schlaff herunterbaumelnden Gliedern gefragt, die ihn an einen Leichnam erinnerten, an ein kleines totes Kaninchen, aber er hatte es unterlassen, und nun wußte er nicht, wie er das Thema jetzt noch anschneiden sollte. »Wir wollen noch hören, was der Arzt zu sagen hat, dann gehen wir.«
»Meinetwegen, solange Sie nicht erwarten, daß sie das Bewußtsein wiedererlangt und eine Aussage machen wird.«
»Nein, nein… wir wissen bereits, was passiert ist. Wir sind dem Wagen gefolgt.«
Die Schwester hatte keine Zeit mehr, darauf zu antworten. Sanitäter schafften einen Drogensüchtigen mit Überdosis herein, gefolgt von zwei Polizisten. Unmittelbar zuvor hatte man bei einem frisch eingelieferten Herzinfarkt nur noch den Tod feststellen können, und nun protestierte seine Frau schluchzend und schlug mit den Fäusten gegen die Brust eines jungen Arztes. An der Wand saßen auf Plastikstühlen drei, vier leicht Verletzte mit grauen Gesichtern und ganz erschöpft vom Warten, während immer wieder dringendere Fälle an ihnen vorbeigeschoben wurden.
»Ich hole uns einen Kaffee aus dem Automaten«, sagte Lorenzini, und dann nahmen auch sie auf den harten roten Stühlen Platz, nippten an dem siedendheißen Kaffee und verbrannten sich die Finger an den kleinen Plastikbechern.
»Wollen Sie sich mit Dori in Verbindung setzen?«
»Ich werd’s versuchen. Ich hoffe, sie ist inzwischen verheiratet, aber wenn nicht, dann sollte das hier sie zur Besinnung bringen, ob das Mädchen nun ihre Freundin ist oder nicht.«
»Glauben Sie wirklich? Auf mich wirkt Dori immer wie eine, die sehr gut auf sich selbst aufpassen kann.«
»Diese Mädchen geben sich immer
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