Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
Ben, meine ich …“ Irgendwie bin ich hier im falschen Film.
Sie greift nach Alex’ Weinglas und stürzt den Rest hinunter. Dabei verirren sich ein, zwei Tropfen und laufen ihr aus den Mundwinkeln den Hals hinunter, bis zur Kehle. Dort kommen sie zwischen ihren Schlüsselbeinen zum Liegen, bevor sie ihren Weg weiter finden und unter dem Kragen der Bluse verschwinden. Sie bemerkt es nicht – ich schon; und fasziniert von diesem Anblick vergesse ich beinahe das Thema dieser Unterhaltung. Aber nur beinahe.
„ Alex ist ein wirklich feiner Kerl.“ Sie setzt das Weinglas hart auf dem Tisch ab.
„ Und du weißt das, weil …?“
Sie hat den kleinen Faden Flüssigkeit bemerkt und versucht ihn mit dem Ärmel der Bluse wegzuwischen. Ach Mädchen, Rotwein geht so schwer wieder raus. „Na weil er auch ein Freund von mir ist. Er und Fay.“ Ein Bild taucht in ihrem Geist auf und ich erkennen, dass sie im Stillen eine kleine Schwärmerei für den älteren Freund hegt.
„ Und Ben ist kein Freund von dir?“ Jetzt will ich es genauer wissen.
Sie schüttelt beinahe angewidert den Kopf. „Ben ist ein … Aufschneider. Sein Einfluss auf meinen Bruder ist … widerlich.“ Ich sehe ihr an, dass sie am liebsten noch ganz andere Wörter benutzt hätte, ihr dies aber ihre gute Erziehung verbietet.
„ Wie lange kennen sich die beiden denn schon?“
Sie seufzt. „Zu lange für meinen Geschmack.“
Das war deutlich. Zusehends entspanne ich mich, während sie sich nicht sicher ist, ob sie die Situation, in die sie sich hineinmanövriert hat, kontrollieren kann.
„ Also, um es kurz zu machen“, erlöse ich sie, „Ben und ich haben uns zu Beginn der Reise flüchtig kennen gelernt. Wir hatten nichts miteinander, wie ihr heutzutage wohl sagt.“ Sie ist erleichtert. „Allerdings hat er mir einen Rock und eine teure Bluse mit Weinflecken ruiniert. Ein Versehen wohl.“ Ja, noch klingt das ganz plausibel. „Mr. von Hohenau war so freundlich, mir diese Dinge in Bens Namen zu ersetzen.“ Zugegeben, ich breche mir erneut beinahe die Zunge bei der Aussprache des Nachnamens, aber was tut man nicht alles. „Angeblich fühlt er, also Ben, sich heute nicht ganz so wohl. Ich vermute ja Seekrankheit.“ Oder ein Schwächeanfall, für den ich durchaus verantwortlich sein könnte – aber das ist nichts, was sie wissen muss.
„ Ganz bestimmt ist es das.“ Ihren Gedanken kann ich entnehmen, dass sie da eher an eine andere Art von Krankheit denkt.
Irre ich mich, oder sind die jungen Dinger heute frühreifer, als wir das waren? Aber vermutlich bleibt einem jungen und so aufgeschlossenen Geist nicht viel verborgen. Wie schade – ich hätte mich für sie gefreut, wenn sie noch etwas naiver oder „unberührter“ von diesen Dingen gewesen wäre, aber das Leben ist einfach kein Ponyhof. Vielleicht sollte ich ihr diese Naivität zurückgeben? Würde sie dies verändern?
„ Sage einmal, Sharroll“, beginne ich daher nachdenklich. „Wie kommst du darauf, dass ich mich auf Ben einfach so einlassen würde? Ich meine, du kennst mich doch gar nicht.“
Sie errötet bis in die Haarspitzen. „Ja, das stimmt, und es tut mir auch leid.“ Ich winke ab.
Sie seufzt. „Ich habe das einfach schon zu oft gesehen, weißt du.“
Jetzt bin ich verwirrt. „Was? Ben und andere Frauen?“
Ihr Gesicht wird noch eine Nuance dunkler. „Um Gottes Willen – nein. Ich habe noch nie …“, sie bricht ab.
„ Schon gut. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“
Sie fängt sich. „Ich bin ja selbst schuld, wenn ich mich so unpräzise ausdrücke.“ Leicht tippt sie sich an die Stirn. „Also, es sind immer die gleichen Typen mit dem gleichen Spiel, und immer die gleichen Frauen fallen darauf herein.“ Ah, jetzt, ja … hä? „Ich meine, hast du meinen Bruder schon kennen gelernt?“
Ich nicke. „Ja, vorgestern im G32.“
„ Dann hast du bestimmt auch den Rest der Gruppe gesehen, oder?“
Ein Bild bunt gewürfelter Menschen taucht vor mir auf und es sind ganze zwei, die daraus hervorstechen: Alex und Fay. Also nicke ich und sie fährt fort.
„ Ich kenne die auch alle zum Glück nur flüchtig.“
„ Aber du kennst sie?“
„ Ja“, sie grinst, „vom Wegsehen.“ Ach, ich wünschte, das könnte ich auch von mir behaupten.
„ Eine weise Entscheidung.“
„ Ja, aber siehst du, genau da ist mein Problem“, platzt es aus ihr heraus. Hä? Wie jetzt? Wohin ist sie jetzt abgebogen und warum habe ich die Kreuzung nicht gesehen?
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