Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
der Frage durch, die sie am meisten beschäftigt: „Was würde mich das kosten?“
Ich nehme die beiden Vorlagen zur Hand und mustere sie, dann sehe ich Cindy an. Mein Preis ist vierstellig und sie schluckt für einen Moment schwer.
„ Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber sind Sie wirklich so gut?“ Noch ein ehrliches Wort.
„ Ich bin nicht beleidigt“, gebe ich zurück und zücke das für diesen Moment extra mitgenommene Buch meiner Arbeiten. „Überzeugen Sie sich selbst.“
Sie schlägt die ersten Seiten auf und ihre Augen weiten sich. „Die sind … wundervoll .“
Ja, ich weiß, aber es zu hören ist immer wieder eine gute Sache.
„ Danke.“
Sie blättert eine ganze Weile und vor meinem geistigen Auge setzt sich langsam das Bild zusammen, das ich für sie kreieren werde. Nur schwer kann sie sich von meinen Arbeiten lösen, so dass ich irgendwann den Faden einfach wieder aufnehme.
„ Wenn wir uns handelseinig werden, würde ich zum Schluss dann auch gerne ein Bild von Ihrem Rücken hinzufügen“, erkläre ich, und mit freudig glänzenden Augen sieht sie mich an.
„ Es wird mir eine Ehre sein.“
Wenig später sind wir uns handelseinig und sie verlässt die Bibliothek. Ich habe ihr eines meiner Kärtchen gegeben und sie will via Onlinebanking den Betrag sofort anweisen. Auch haben wir für morgen Abend einen ersten Termin ausgemacht. Ich freue mich darauf, das muss ich ehrlich zugeben. Sie ist ein wenig nervös, vor allem weil ich mir eine Kopie ihrer Skizze gemacht habe.
„ Keine Sorge“, habe ich sie beruhigt. „Wir nehmen Ihre Vorlage als Grundlage und übertragen das Bild auf die Haut. Den Feinschliff werde ich allerdings freihändig setzen. Denn das hängt von der Struktur Ihres Rückens ab und ist bei jedem individuell.“
Sie ist ein wenig beruhigter und wir verabschieden uns endgültig.
Jetzt, wo alles besprochen und Cindy gegangen ist, sehe ich mich genauer in der Bibliothek um. Die Kopie ihrer Skizze steckt gut verstaut in meinem Buch. Ich werde sie allerdings erst morgen als Vorlage fertig machen, denn dazu brauche ich Ruhe.
Meine Mitbewohnerin Phoebe hätte hier ihre wahre Freude. Ein kleines Schild am Eingang verkündet, dass ich hier circa 8.500 Bände, 200 Hörbücher und 100 CD-ROMs finden kann, ebenso wie verschiedenste internationale Zeitschriften. Das klingt doch vielversprechend.
Durch die Gänge streifend, schweift mein Blick über einen Buchrücken und bleibt an einem in Leder gebundenen Buch haften. Neugierig bleibe ich stehen und trete auf das Regal zu. „Leo N. Tolstoi“ lese ich. Der Titel lautet „Anna Karenina“. Mich an einen von Phoebes Ratschlägen erinnernd, nehme ich das Buch aus dem Regal. „Bücher suchen sich ihre Leser, weißt du“, hatte sie mal schwärmerisch gesagt, als ich sie nach einem in meinen Augen völlig absurden Titel gefragt hatte. Seit Tagen schon hatte sie ihre Nase unaufhörlich hineingesteckt. Damals hatte ich sie nur verständnislos angesehen. Vor allem, weil sie zwinkernd hinzugefügt hatte: „Wenn dich ein Buch anspringt, dann soll es so sein. Lies es dann einfach.“ Also strecke ich meine Hand aus und ziehe den Tolstoi aus dem Regal.
Er sieht unspektakulär aus, hat aber einen guten Umfang. Es ist noch kein „Totschläger“, aber der Autor hat es wunderbar geschafft, ein paar hundert Seiten zu füllen.
Was soll mich hier denn „angesprungen“ haben? Unmotiviert öffne ich den Einband und stolpere über das kleine Zitat vor Beginn der Geschichte.
„ Die Rache ist mein, ich will vergelten“, steht da und ich lese den Satz gut ein Dutzend Mal. Er … hat irgendetwas. Wider Willen neugierig schlage ich die erste Seite auf und bin sofort in der Geschichte gefangen:
„ Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre eigene Art.“
Unfassbar – es hat mich gejagt, angesprungen und zur Strecke gebracht. Wie ein Schlafwandler bewege ich mich durch die beinahe leeren Regale hin zu einem der bequemen Sessel und vertiefe mich in die Lektüre.
„ Im Hause Oblonskijs herrschte große Verwirrung. Die Hausfrau hatte nämlich erfahren, dass ihr Gatte mit einer Französin, die früher bei ihnen Gouvernante gewesen war, ein Verhältnis unterhielt, und hatte ihrem Mann infolgedessen erklärt, dass sie nicht länger mit ihm unter einem Dache weilen könne …“
02.01.
37. Krankenbesuch
Das Buch lässt mich einfach nicht los.
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