Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

den Kopf und zerknülle die kleine Zeichnung vor mir symbolisch.
    Er wird wohl erst einmal damit beschäftigt sein, sich einen neuen Rechtsbeistand zu suchen, um sich aus dem Sumpf herausziehen zu lassen, in den er sich hineinmanövriert hat. Wenn er sich denn daraus jemals wieder befreit. Ich könnte mir vorstellen, dass seine Familie dies nicht so ohne Weiteres hinnimmt. Vielleicht drehen sie ihm ja den Geldhahn zu und dann dürften seine Probleme tatsächlich erst einmal anderer Gestalt sein. Nur so eine Vermutung.
    Und Alex?, flüstert es in mir. Was machst du mit dem ? Gar nichts, gebe ich mir selbst die Antwort. Alex wird alle Hände voll damit zu haben, hinter Ben herzuräumen. Auch wenn Ben ihn „rausgeworfen“ hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass der Mann seinen Ehrenkodex verrät und die Dinge einfach geschehen lässt. Dazu ist er zu gewissenhaft. Zumal sie sich wohl schon … ziemlich lange … kennen – so schnell lassen sich diese Bande nicht kappen. Ich spreche da aus Erfahrung. Außerdem ist da ja auch noch Fay. Dass sie ihn ebenfalls rausgeworfen hat, kann ich mir nicht vorstellen.
     
    Plötzlich kommt mir eine Idee. Ich könnte doch dafür sorgen, dass … Erst langsam, dann immer schneller suche ich nach meinem Mobiltelefon und klappe es auf.
    Im Speicher des Gerätes befindet sich eine Nummer, die ich noch nie angerufen habe. Eine Nummer zu einem Telefon in London, die jemandem gehört, den ich seit Jahren nicht mehr gesprochen habe und der sicher genauso erstaunt über meinen Anruf sein wird, wie ich es über den puren Gedanken daran bin: die Nummer von Jason – meiner Jugendliebe und meinem „Erzeuger“. Meinem vampirischen Vater, wenn man so will.
    Lange starre ich einfach nur die Nummer an und weiß nicht genau, was ich tun soll. Unser letztes Gespräch liegt schon so lange zurück und wir haben uns nicht wirklich im Streit getrennt; aber einige Unstimmigkeiten gab es da wohl. Welche genau, will mir gerade nicht einfallen, aber sie hatten damals dazu geführt, dass ich ihn nicht nach London begleitete.
    Wie er jetzt wohl reagiert, wenn ich plötzlich und aus heiterem Himmel am Telefon bin? Noch viel schlimmer, bin ich wirklich darauf gefasst, seine Stimme zu hören, nach all den Jahren? Was, wenn er auflegt? Was, wenn nicht? Wie beginnt man nach dieser Zeit der Stille?
    Auf der anderen Seite könnte ich ihn jetzt wirklich gut gebrauchen – und, hey, uns verbindet ja auch eine ganze Menge. Wenn man es praktisch betrachtet, dann sogar mehr, als mich mit den meisten Menschen verbindet, die ich kannte oder noch kennen werde. Sogar mehr als mit meinem Vater, und mit dem verbindet mich immerhin rein biologisch die Hälfte meines Daseins.
    Aber irgendwann ist einfach die Zeit, die zwei … Individuen … verbindet, vorbei. Nichts ist für die Ewigkeit und wir wussten es beide in den ersten Nächten nach meiner Umwandlung.
    Solange wir uns nicht ebenbürtig waren, war es schön – sehr schön, um genau zu sein. Solange die natürliche Grenze zwischen dem, was er war, und dem, was ich damals noch nicht war, zwischen uns bestand, herrschten Frieden und Einklang zwischen uns. Keine Ahnung, wie lange das so weitergegangen wäre, aber es spielt auch keine Rolle, denn die Dinge wurden kompliziert, als wir uns zu nahe gekommen waren. Sicherlich erst nach und nach und nicht sofort, aber sie wurden deutlich komplizierter. Erst konnten wir nicht mehr vernünftig miteinander reden und dann standen da plötzlich Vorwürfe im Raum.
    Nicht, dass ich nicht nach wie vor eine Schwäche für ihn gehabt hätte, aber was bringt dir das, wenn sich deine Welt in dem Bruchteil einer Sekunde bis in die Grundfesten verändert hat? Wenn du das Gefühl hast, in eine bodenlose Tiefe zu stürzen und das Seil, dass dich davor bewahrt, zu reißen beginnt? Wenn du so viel Mist in so kurzer Zeit erlebt hast, dass du nicht mehr weißt, wo oben und wo unten ist?! Was richtig und was falsch? Wer deine Freunde sind und wer nicht?
    Wenn sich dann noch die Gewissheit einstellt, dass dein ganzes Leben bisher eine Lüge war, dann siehst du einfach nichts mehr. Egal, ob es so ist oder nicht. Dann versuchst du nur noch das von dir zusammenzuhalten, was von dir noch übrig ist, und mit diesen fadenscheinigen Fetzen musst du auskommen, weil es dich sonst komplett auseinanderreißt. Das ist kein Spaß und natürlich benimmst du dich völlig irrational, aggressiv und unberechenbar.
    Du bist nicht bereit, über den kleinsten Ansatz