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Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myrna E. Murray
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wert. Ich werde also morgen oder übermorgen noch einmal mein Glück versuchen. Mit diesem Entschluss im Hinterkopf kleide ich mich sorgfältig wieder an und werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist kurz nach Mitternacht, also wird die Bibliothek noch geöffnet haben.
    Dort angekommen, lasse ich mir das Buch geben und suche mir eine gemütliche und vor allem etwas abgeschiedene Ecke. Mein Hochgefühl hat mich zwar nicht verlassen, aber ich möchte jetzt doch ungestört sein. Nachdem ich es mir bequem gemacht habe, schlage ich das Buch neugierig auf. Was wohl aus Anna und Wronskij wird? Schnell habe ich meine letzte Lesestelle gefunden und tauche in die Handlung ein. Es wird immer spannender, und voller Begeisterung fiebere ich mit.
     
    „ Sieh an, es kann lesen.“ Eine Stimme reißt mich aus meiner Lektüre und irritiert sehe ich auf. Einen Moment lang denke ich den leibhaften Wronskij vor mir zu sehen, doch es ist nur Alex. Seine Augen sehen in ihrem intensiven Ton auf mich herab und ich kann mich ihnen einfach nicht entziehen. Was hat er gleich gesagt?
    Nicht ganz Herrin meiner Sinne antworte ich mechanisch: „Natürlich kann ich lesen.“
    Unaufgefordert setzt er sich mir gegenüber. „Was liest man denn?“ Ich halte das Buch hoch und er entziffert den Titel. Amüsiert zieht er eine Augenbraue hoch. „Sieh an.“
    Was bitte ist daran jetzt so witzig? Um den Frieden zu bewahren beschließe ich, nicht weiter darauf einzugehen.
    „ Kann ich etwas für dich tun?“, erkundige ich mich liebenswürdig.
    „ Nein.“
    „ Dann hast du nichts dagegen, wenn ich jetzt weiterlese?“
    Nun nimmt er seine Brille ab und putzt sie, als ob überhaupt nichts wäre. „Selbstverständlich nicht.“
    Gut, dann eben nicht. Meinen Sarkasmus nur schwer in Zaum haltend schenke ich ihm ein „Vielen Dank“ und wende mich wieder dem Buch zu.
    Seine Ausstrahlung ist ebenfalls merkwürdig beherrscht. Ich sehe jedoch keinen Grund, mich darum zu kümmern. Also lehne ich mich wieder zurück und lese weiter. Er bleibt einfach sitzen und fixiert mich. Dadurch verfliegt die bisher friedliche Atmosphäre gänzlich und ich kann dem Faden der Geschichte nicht mehr hundertprozentig folgen. Die Handlung will mich nicht mehr mitspielen lassen. Verflixtes Ding! Obwohl ich den aktuellen Absatz jetzt schon zum vierten Mal lese und er keinen Sinn ergibt, sehe ich nicht ein, mir das anmerken zu lassen.
    Genervt lasse ich das Buch nach einer Weile sinken und fixiere ihn nun meinerseits. Er setzt ein geradezu herausfordernd unschuldiges Gesicht auf.
    „ Okay.“ Ich sehe ihn an. „Wenn ich also nichts für dich tun kann, was möchtest du dann?“
    Er legt die Fingerspitzen aneinander und stiert mich über die Ränder seiner Brille hinweg an. „Eine Erklärung.“
    Ich stutze. Wofür das denn?
    „ Eine Erklärung?“ Nun ist es an mir, eine Augenbraue hochzuziehen und ihn meinerseits anzustarren. „Könntest du bitte präziser werden?“
    Mir fallen etwa eine Milliarde Dinge ein, die ich erklären könnte. Gleichzeitig fallen mir dazu circa zwei Milliarden Dinge ein, die ihn nichts angehen – die erklärungsbedürftigen Dinge der ersten Milliarde eingeschlossen.
    Er lehnt sich zurück, wirft einen Blick auf das Buch und dann auf mich. „Findest du nicht auch, dass Anna als Protagonistin zu Recht mit einer ‚Tochter des Windes’ verglichen werden kann, oder kommt dir diese Metaphorik zu weit hergeholt vor?“ Wie bitte? Irritiert sehe ich ihn an. „Nun ja, du als Kennerin eines klassischen Spannungsbogens wirst doch wohl das Sujet des Ehebruchs innerhalb des Textes erkennen, oder etwa nicht?“
    Das was?
    Vorsichtshalber nicke ich.
    „ Das dachte ich mir“, fährt er fort und setzt sogleich nach. „Du hast bestimmt auch die Parallelen zu Fontanes Effie Briest erkannt.“
    „ Selbstverständlich.“ Keine Ahnung, wovon er spricht.
    „ Dann stimmst du also zu, dass beide Romane auf anschauliche Weise die puritanische Welt des Realismus widerspiegeln und Moral gegenüber der Verführung einen tieferen Stellenwert hat?“
    Er spuckt seine Wörter so schnell wie Gewehrsalven aus und ich gebe zu, dass ich keine Ahnung habe, wovon er redet.
    „ Es ist nur ein Buch, Alex“, versuche ich ihn zu beruhigen.
    „ Nein, ich denke es ist mehr als das, Christa.“ Sein Ton ist nun beinahe schneidend. Also schön. Offensichtlich will er über irgendetwas sprechen. Mit einem Lesezeichen markiere ich die Stelle und klappe das Buch zu.
    „ Was möchtest du

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