Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
werden vom Publikum mit stehenden Ovationen überschüttet.
Die Zugabe ist ein Medley aus verschiedenen Stücken und die Leute sind außer sich vor Begeisterung. Viele singen mit und beinahe tanzen die ersten drei Reihen – und wahrscheinlich auch der Rest des Saals. Okay, mich hat es ebenfalls vom Stuhl gerissen.
Verstohlen mustere ich den Mann an meiner Seite. Er steht ebenfalls und klatscht. Allerdings tut er es zurückhaltend. Sein Blick ruht auf mir und was ich darin lese, lässt meine Knie weich werden. Oh, mein Gott! Ich lächele ihn an und er macht eine kleine Bewegung mit seinem Kopf, die meinen Blick zurück auf die Bühne lenkt.
Die Lichter haben sich zu einer letzten Zugabe verdunkelt und das mir nun vertraute Intro des „Tanz der Vampire“ setzt ein. „Glänzende Augen, glänzendes Haar. Sprachlos vor Neugier und blind für die Gefahr … “ Ich erstarre. Erkenne ich eine Melodie von Bonnie Tyler? Tatsächlich. Total eclipse of the heart . Auf der Bühne steht eine der Hauptdarstellerinnen. Sie trägt ein einfaches weißes Spitzenkleid und eine Art halbrunden Umhang darüber. Als sie zu singen beginnt, schwanke ich, denn der Boden dreht sich unter mir.
In diesem Moment betritt der Vampirfürst die Bühne und alle Herzen im Saal fliegen ihm zu. Er trägt den obligatorischen Anzug und den weiten Umhang. Allerdings ist seine Ausstrahlung nun auf Verführer gestellt und nicht auf Herrscher. Er wirkt beinahe zärtlich und selbstverloren. Wer könnte ihm da nur widerstehen? „Sich verlieren heißt sich befreien. Du wirst dich in mir erkennen. Was du erträumst wird Wahrheit sein, nichts und niemand kann uns trennen. Tauch mit mir in die Dunkelheit ein …“
Es ist beinahe nicht zu ertragen. Alex greift nach mir und dankbar klammere ich mich an ihn. Ich brauche ihn nicht anzusehen, denn seine Aura spricht Bände. Im Einklang mit diesem Schwur scheint sein Herz zu schlagen und ich kann nicht sagen, welcher Part hier der Meine ist.
Der Fürst umwirbt das Mädchen. „Ich habe mich gesehnt danach mein Herz zu verlieren – jetzt verliere ich fast den Verstand …“
Wer hat eigentlich diesen absolut wahren Text geschrieben? Bilder steigen in mir auf. Bilder von Jason und der schönen Zeit, die wir miteinander hatten. Sein Gesicht steht ganz deutlich vor mir und er zwinkert mir zu, so als wolle er sagen: Jetzt schließe endlich Frieden mit dir, und wenn du so weit bist, dann unterhalten wir uns. Im Stillen stimme ich ihm zu und ganz plötzlich weiß ich, dass es tatsächlich etwas werden kann mit mir und Alex. Und dass es schön werden könnte. Allerdings muss ich dann noch einige Dinge klarstellen.
Das Lied steigert sich in ein opulentes Duett der beiden Darsteller – und sie hat sich ergeben. „Totale Finsternis – wir fallen und nichts, was uns hält .“ Wie wahr. Der Applaus, der auf die sich anschließende Stille folgt, ist bahnbrechend und muss das Schiff in seinen Grundfesten erzittern lassen. Hoffentlich kommt es nicht vom Kurs ab.
Die Gala ist zu Ende und Alex führt mich tief beeindruckt aus dem Saal. Beinahe willenlos folge ich ihm, den Blick nachdenklich nach innen gerichtet. Das Chaos in mir ist fast perfekt. So viele Dinge sind aufgewirbelt, werden neu bewertet und neu verstaut. Übrig bleibt die Erkenntnis, dass manche Dinge einfach Zeit brauchen um zu verheilen, und dass man sich deswegen nicht vor der Welt verschließen darf.
„ Hilf mir stark zu sein!“ Der Appell aus dem Phantom stimmt, doch wen ich für mich damit meine, ist mir nicht so ganz klar. In diesem Moment sicherlich Alex. „Oder willst du lieber, dass alles bleibt, so wie es ist. Glaubst du, das wäre dir genug? Ich denke mir, das wäre dir nicht genug!“ Wieder stammen diese wahren Worte von meinem Musical-Bruder und ich könnte mich ohrfeigen. Jetzt keinen Schritt zurück machen.
Trotzdem, die ersten Worte treffen in ihrem ursprünglichen Sinn rückblickend auch auf mich zu, beziehungsweise könnten sie von mir sein. An wen sie gerichtet sind, wird mir in dem Moment klar, in dem ich genauer darüber nachdenke. Ich gestehe mir ein, dass auch nicht viele zur Auswahl stehen. Aber zwischen denen könnte ich mich jetzt wirklich nicht entscheiden. Eigentlich sind es nur zwei, oder? Jason, mein Erzeuger, und … mein Vater. An Letzteren habe ich allerdings noch nie in so versöhnlicher Stimmung gedacht.
So lange habe ich ihn für alles verantwortlich gemacht. Vielleicht wird es Zeit, doch meinen Frieden mit
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