Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
Streitgespräch in der Bibliothek und an das vergangene hier im Restaurant. Wenn er etwas tut, dann aus Überzeugung und Leidenschaft. Er ist offen für kleine Zwischentöne, wie seine Wahl des Abendprogramms heute bewiesen hat. Außerdem, und das ist wohl der wichtigste Punkt: Er ist hartnäckig an mir interessiert. An mir und nicht an dem, was ich der Welt hier von mir gezeigt habe.
Allein das verdient wirklich eine Chance. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mich in seiner Gegenwart wohl fühle. Aber das ist vergänglicher Gefühlskram. Wichtiger sind die anderen Fakten.
Gegen ihn spricht: Dass ich mein Inkognito aufgeben muss, wenn er mich rechtlich vertreten soll. Schließlich laufen nicht alle meine Konten auf den Namen Christa Ashton. Wir kennen uns aber zu kurz, um so eine Entscheidung zu treffen, und allein aus Gründen des Selbstschutzes bin ich mir nicht sicher, ob ich dafür schon bereit bin. Er stellt ein Risiko dar, wie sehr ich es auch drehe und wende. Zum einen arbeitet er für Bens Vater, und dieses Arbeitsverhältnis lässt sich sicher nicht so schnell auflösen ... zum anderen ist da ja auch noch Fay.
Für einen Moment dämmert es mir, dass es nicht so klug war, Bens Erinnerungen an mich beinahe komplett auszulöschen. Nicht, wenn ich nicht auch noch Fay und Loren, Sharroll und Desmond und überhaupt alle aus seinem engeren Dunstkreis entsprechend mitmanipuliere – und das möglichst bevor sie das Schiff verlassen.
Das wäre ein wirklich hartes Stück Arbeit, von dem ich nicht weiß, ob ich ihm gewachsen bin. Aber es muss wohl sein. Nur, wie komme ich an sie alleine heran? Gemeinsam kann ich sie nicht alle gleichzeitig manipulieren. Aber vielleicht muss ich das gar nicht. Loren denkt, wir seien gute Freundinnen und hätten uns hier an Bord kennen gelernt. Ben denkt, ich wäre eine Fantasiegestalt in seinem Kopf. Solange er mich nicht wiedersieht, kann ihm Loren ja von ihrer Freundin Christa erzählen, die er leider, leider nicht kennen gelernt hat. Ich denke, er wird sie davon überzeugen können, dass sie sich irrt.
Ich rekapituliere weiter: Für die anderen in der Clique bin ich ein Phantom, das sie ein- oder zweimal gesehen haben. Also nichts, woran sie sich zwingend erinnern würden. Bleiben noch drei: Fay, Desmond und Sharroll. Wenn ich den ersten beiden die Erinnerung so manipuliere, dass sie sich an eine anonyme Helferin erinnern, die im Getümmel des Abends verschwunden ist, könnte es klappen.
Ich seufze. Wie sehr ich es auch drehe und wende, Sharrolls und Desmonds Leben habe ich beeinflusst, wenn nicht sogar grundlegend verändert. Sharroll wird sich wahrscheinlich sowieso nicht daran erinnern, dass gerade ich es war, die sie gefunden und ihr geholfen hat. Bleiben also Fay und Desmond. Das ließe sich machen, und wenn alle Stricke reißen, kann ich immer noch etwas anderes einfädeln.
Noch einmal seufze ich. Genau das kommt dabei heraus, wenn man sich einmischt. Man wird in Dinge verstrickt, die man nicht mehr aufhalten, geschweige denn kontrollieren kann. Einen Moment lang starre ich auf die Pro- und Contra-Liste
Lange betrachte ich die Namen auf meiner Liste. Was bedeuten diese Menschen denn für Alex? Fay ist seine Freundin und Vertraute, um die er sich kümmert. Das habe ich zumindest schon gesehen. Würde er sich von Fay trennen können? Würde er das wollen? Würde ich das an seiner Stelle wollen?
Verdammt nochmal, warum muss ich mir darüber eigentlich Gedanken machen? Wenn er wirklich mir gehört, dann muss er sich von allem trennen, was ihm bisher wichtig war, und wenn er das nicht kann, dann muss ich halt dafür sorgen, dass es so ist. Was spräche denn gegen einen Reitunfall, der leider tödlich verläuft? Bei einem Genickbruch kann man nicht viel machen. Sorry. Eine saubere Sache, Tränen, eine Beerdigung – fertig. Mit Jason und mir hat es doch auch funktioniert. Okay, ich habe in anderen Umständen gelebt und wir waren auch nicht auf einer Nussschale von Boot gefangen und unter Zeitdruck. Aber Alex ist nicht wie du, flüstert es in mir. Na gut, das kann ich tatsächlich bestätigen.
Entschlossen knülle ich den Zettel zusammen und lasse ihn über der Kerze in Flammen aufgehen. Das bringt mir zwar missbilligende Blicke der Belegschaft ein, aber ich habe ja weder den Tisch noch das Tischtuch in Brand gesteckt. Langsam, ganz langsam kokelt die Seite vor sich hin, so als würde sie sich nicht auflösen wollen. Ich betrachte es. Sehe, wie die Worte langsam
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