Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
wie niemand anderes, den ich je kennen gelernt habe. Ich tigere noch eine Weile auf und ab.
„ Mein Geist ist einfach übermüdet und mein Kopf arbeitet nicht richtig“, murmele ich vor mich hin, doch er muss es gehört haben, denn er springt darauf an.
„ Du hast heute auch eine traumatische Erfahrung gemacht.“
Tja, wenn das so einfach wäre. Den Blick voller Zweifel und ein klein wenig selbstverloren bleibe ich mitten im Raum stehen.
Er betrachtet mich noch einmal und macht dann eine einladende Geste. „Ich möchte dich bei mir haben und den restlichen Abend mit dir genießen.“ Mit der freien Hand deutet er auf den leeren Stuhl und ich setze mich noch einmal hin. Die Arme vor der Brust überkreuzt, strahle ich wohl etwas aus, das ihn innehalten lässt. Gütig und verständnisvoll lächelt er mich an und drückt mir dann das zweite Weinglas in die Hand. „Trink einen Schluck.“
Er tut es selbst und füllt sich sein Glas dann neu auf. Vielleicht hätte ich doch das Gift …? Zu spät. Soll er mich für eine leicht durchgeknallte Frau mit der Vorliebe für obskure Intentionen halten. Es kann mir eigentlich egal sein, oder? „Wir alle haben unsere Geheimnisse, und Sie fangen an.“ Waren das nicht Bens Worte vor nicht allzu langer Zeit? Irgendwie kommt mir das alles unwirklich vor.
Alex reißt mich mit einem „Ich kenne dein Geheimnis“ aus meinen Gedanken.
„ Was, schon wieder?“ Ich sage doch, Sarkasmus ist eigentlich mein Schild.
„ Es ist doch offensichtlich.“ Er hat die Flasche wieder zurück auf den Tisch gestellt.
„ Na, da bin ich aber gespannt.“
Er lehnt sich zurück und mustert mich, scheinbar unschlüssig, wie er seine Worte wählen soll.
„ Sprich ruhig geradeheraus, ich kann das vertragen“, fordere ich ihn auf und er nickt.
„ Gut.“ Um sich zu stärken leert er das halbe Weinglas mit einem Zug und stellt es fort.
„ Für mich ist ganz deutlich zu sehen, dass dich jemand schwer emotional verletzt hat. Ich vermute, ein enger Verwandter oder ein junger Mann aus deiner Jugend.“ Ich kann ihn nur anblicken. So auf den Kopf zu hat mir das noch nie jemand gesagt. „Versteh mich nicht falsch. Ich kann das nur vermuten, schließlich kenne ich dich erst ein paar Tage.“
„ Du kennst mich nicht!“, entfährt es mir, aber er scheint mit dieser Antwort gerechnet zu haben. Sein Tonfall verändert sich jedenfalls nicht merklich. Er bleibt sachlich und fürsorglich zugleich.
„ Vielleicht nicht wie andere, das stimmt. Aber ich bin nicht blind und deine Reaktionen sprechen eine sehr deutliche Sprache.“ Nun sieht er mich eindringlich an. „Irgendjemand hat dich verletzt und nun misstraust du jeglicher Art von emotionaler Bindung, um nicht erneut verletzt zu werden.“ Er hält kurz inne. „Aus diesem Grunde hast du dich vermutlich in diese ‚Welt der Dunkelheit‘ geflüchtet. Ich verstehe das und ich kann damit umgehen.“
Soll ich jetzt lachen oder weinen? Beide Impulse ringen so heftig miteinander, dass es beinahe wehtut. Dieses Gespräch läuft so ganz anders als geplant. Es fehlt nur noch, dass er mich auf seinen Schoß zieht und so etwas sagt wie „Du kannst mir vertrauen, ich bin nicht dein Vater“ . Dann schmeiße ich ihn raus und lösche sein Gedächtnis – und wenn es das Letzte ist, was ich tue!
Er sagt es aber nicht, sondern beugt sich stattdessen vor, greift noch einmal nach dem Wein und nimmt einen Moment später meine Hände in seine. Ich bin beinahe unbeweglich, lasse es aber geschehen.
„ Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut wird.“ Hört! Hört! „Aber ich verspreche dir, immer ehrlich zu dir zu sein. Kannst du dich darauf einlassen?“
Zögerndes Nicken von meiner Seite aus.
„ Gut.“ Um einen neuen Anlauf in unserem Gespräch zu starten, nimmt er die Brille kurz ab, putzt sie und setzt sie wieder auf. Diese Geste ist ihm so zu eigen, dass ich davon beinahe keine Notiz mehr genommen hätte. Nun registriere ich jedoch, dass er in diesen wenigen Minuten seine Gedanken zu sortieren scheint. So haben wir eben alle unsere kleinen Macken.
Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Also, erzählst du mir jetzt, was da vorhin auf dem Deck wirklich passiert ist? Was hat dich so verzweifeln lassen, dass du wirklich über die Reling springen wolltest? Dass du es tun wolltest, daran besteht für mich kein Zweifel. Ich weiß nur nicht, warum.“
Ich brauche nicht lange zu überlegen. „Sie hätten mich getötet –
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