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Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myrna E. Murray
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führte ich in einer Stunde, in der wir über die christliche Religion sprachen, eine hitzige Diskussion mit der Lehrkraft, die so weit eskalierte, dass sie weinend den Klassenraum verließ. Ich hatte meine Genugtuung, mir aber auch eine Woche Nachsitzen eingehandelt. Was mich nicht störte, denn beim Nachsitzen traf ich die für mich aufregenden und vor allem älteren Leute.
    So begann meine Karriere als Nachsitzerin. Der Rektor ließ einen Psychologen kommen, welcher sich von meiner Persönlichkeitsstruktur überzeugen sollte. Ich wurde als auffallend hitzköpfig und verhaltensgestört diagnostiziert. Auch mit Obrigkeiten und Regeln hatte ich so meine Probleme. Mein Vater wurde herbeizitiert, und vor der versammelten Nachsitzerklasse machte er mir eine Szene. Es war ein Heidenspaß.
    Er warf mir den Befund an den Kopf, nannte mich eine vom Bösen besessene Irre und brachte mich nach Hause. Es war mir egal. Sein Ausbruch hatte zur Folge, dass ich nun endlich die Aufmerksamkeit der für mich richtigen Leute hatte. Mein Befund des Psychologen und die Szene meines Vaters hatte mir Tür und Tor geöffnet. Ich war ihm richtig dankbar. Auch mein voller Vorname machte nun die Runde.
    Plötzlich war ich cool, denn wer konnte schon einen fanatischen Vater und dazu einen passenden Vornamen vorweisen? Ich türmte oft am Wochenende und vertrieb mir die Zeit auf Partys, die von verschiedenen Personenkreisen besucht wurden. Wenn ich Freitagabend nicht nach Hause gekommen war, brauchte es bis etwa Samstagmittag, bis „Hunter“, der gute Freund meines Vaters und mein persönlicher Schwarzer Mann, mich gefunden hatte und zurück zu meinem Vater brachte. Zu diesem Zeitpunkt war ich meistens so bekifft, dass ich nicht viel von seinen Predigten mitbekam. Je mehr er versuchte mich zu kontrollieren, umso mehr ließ ich mir einfallen, um ihn an der Nase herumzuführen.
     
    1969 hatte mein Vater genug von meinen Eskapaden und an meinem 15. Geburtstag erklärte er mir feierlich, er würde nicht zulassen, dass eines seiner Schäfchen die Herde verlasse. Ich war zutiefst gerührt. Er sorgte sich um mich? In diesem Moment kam er mir arm und klein vor. Seine Sorge hatte ihn blind gemacht für mein Bedürfnis nach Freiheit. Irgendetwas sagte mir, dass ich ihm vielleicht doch eine Chance geben sollte, aber als er dann anfing mit mir erneut über Christi Lehren zu sprechen, begriff ich, dass es ihm ernst war mit dem, was er da von sich gab.
    Also ignorierte ich ihn und lauschte meiner inneren Stimme, die nach etwas anderem verlangte. Doch er merkte sehr schnell, dass ich ihm nur begrenzt zuhörte, und ich erwartete einen erneuten Wutausbruch. Er kam nicht. Stattdessen seufzte mein Vater laut und sagte mir zum ersten Mal in meinem Leben, dass er mich lieb hätte und dass er mich beschützen wollte vor allem Bösen. Ich war total geschockt, denn so hatte er noch nie mit mir gesprochen. Doch meine Verwunderung verschwand, als er mir erklärte, wir wären aus New Orleans weggezogen, weil er dort das unmenschliche Böse gesehen hatte und nicht wollte, dass es mir etwas tat. Ich zweifelte ernsthaft an dem Verstand meines Vaters. Es hatte keinen Sinn, und er wusste es. Er war mir gleichgültig und ich wusste nichts, vor dem er mich beschützen könnte außer vor sich selbst.
     
    Nach diesem Gespräch war er sehr bemüht mich bei sich zu haben und mir nach und nach Freiheiten zu gewähren. Doch für mich blieb er stets der Mann, der mich weggesperrt und mit einer übermächtigen Gottheit konfrontiert hatte, welche die Ängste meiner Kindheit bestimmte und prägte. Es dauerte noch einige Zeit, bis ich, ermutigt durch meine neuen „Freunde“, den Mut fand von zu Hause abzuhauen und mich der vollkommenen Kontrolle durch meinen Vater zu entziehen. Ich zog von einem flüchtigen Bekannten zum nächsten und tauchte hinein in eine Welt aus Sex, Drugs und Rock’n’Roll. Ich wollte alles sein, nur nicht bieder und anständig. Auch änderte ich meinen Namen und ließ mich „Justice“ rufen. Teils aus Angst, von Hunter gefunden zu werden, teils um mit meinem vorherigen Leben abzuschließen.
     
    Mit all diesen Erinnerungsfetzen im Hinterkopf sehe ich nun langsam wieder klarer und lege die letzten Schritte zu den großen Türen des Britannia Restaurants zurück.
    W A S F Ü R E I N W E G!
     

 
     
    11. Sturm im Wasserglas
     
    Eine Mischung aus begeistertem Stimmengewirr und dezenter Hintergrundmusik hat mich im Restaurant empfangen und von einem Kellner

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