Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
ausweichend. „Aber ein Nachtclub ist auch kein rechter Ort für ein Kennenlernen.“
„ Da gebe ich Ihnen völlig recht.“ Sie nickt so wissend, als wäre sie selbst im G32 anwesend gewesen. „Darf ich Ihnen den Rat einer aufgeklärten Frau geben, welche die 60er-Jahre ausgiebig genossen hat?“ Abwartend schaut sie mich an und ich bin mir nicht ganz sicher, was ich sagen soll. Dass ich zu dieser Zeit meine „wilden Jahre“ hatte, wie sie es wohl nennen würde, kann ich ihr natürlich nicht anvertrauen. Sie wartet und ich sehe sie skeptisch an.
„ Also schön“, beginnt sie schließlich etwas ernüchtert. „Aber eines muss ich Ihnen mit auf den Weg geben.“
Neugierig sehe ich sie an.
„ Auch wenn Sie noch nicht daran gedacht haben. Dieses Schiff wird nur eine begrenzte Zeit unterwegs sein und wenn Sie auf ein gelungenes Abenteuer aus sind, würde ich mich nicht davon abhalten lassen.“ Sie zwinkert mir zu und wendet sich zum Gehen um. „Wenn ich nur halb so alt wäre, wie ich es jetzt bin, dann würde ich nicht so lange warten.“ Hoch erhobenen Hauptes bewegt sie sich auf das Pub zu. „In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Abend. Tun Sie nichts, was ich nicht auch tun würde.“ Hüftschwingend betritt sie das Pub und ist kurz darauf aus meinem Blickfeld verschwunden.
Berta, Berta, Berta! Verdattert bleibe ich stehen. Was genau ich erwartet hatte, kann ich nicht sagen, das aber sicherlich nicht. Tipps in Liebesdingen von einer Frau zu bekommen, von der ich persönlich erwartet hätte, dass sie diesen Dingen in ihrem Alter bereits den Rücken gekehrt hat, ist wohl eines der merkwürdigsten Erlebnisse in meinem Dasein.
„ Take me down to the paradise city …“ schießt mir Axl Roses Stimme kurz durch den Kopf. Nein, erleichtert registriere ich, dass das Stück im Lions Pub zum Besten gegeben wird und von da aus in den Bereich meiner Wahrnehmung gelangt ist. „Where the grass is green and the girls are pretty … Oh, won't you please take me home.“ Träge schüttele ich die Melodie ab und besinne mich wieder auf das Hier und Jetzt. Kurz zuckt vor meinem inneren Auge ein Bild von Berta in Reizwäsche auf, doch ich kann es glücklicherweise zur Seite schieben. Manche Dinge stellt man sich lieber einfach gar nicht erst vor.
„ I want to go … I want to know … Oh, won't you please take me hooooooome. Baby“, tönt es mir hinterher und sinnierend mache ich mich wieder auf den Weg zum Britannia Restaurant.
Soll ich da heute eigentlich noch ankommen? Okay, das Lied stammt aus den 80er-Jahren, dennoch peitscht es durch mich hindurch und ich spüre etwas Neues aus den Tiefen meines Unterbewussten aufsteigen. Es ist zum Verrücktwerden! Wenn das so bleibt, dann pfeife ich auf die Anzüge, auf die herrliche Überfahrt und auf alles, was mit diesem Schiff zu tun hat.
Dann schließe ich mich in meiner Kabine ein und täusche eine schwere Grippe vor!
Doch vorher muss ich wieder Herrin meiner Sinne werden und die nächste Welle Erinnerungen über mich ergehen lassen. Vorsichtshalber ziehe ich mich in eine Nische zurück, denn das hier geht wirklich niemanden etwas an.
Es war der Sommer 1967, als ich aus dem katholischen Klosterinternat zurück zu meinem Vater und für mich zurück ins Leben geschickt wurde. Die Welt hatte sich verändert und ich hatte davon nichts mitbekommen. Vater schickte mich zur Highschool in Atlanta. Allerdings brachte er mich morgens hin, holte mich danach wieder ab und ich musste den restlichen Tag zu Hause verbringen. Auch kontrollierte er, ob ich wirklich in der Schule war, durch Anrufe und Besuche während der Pause. Er hatte ja keine Vorstellung von meinem Glücksgefühl auf dieser „normalen“ Highschool. Es gab keine Gebete, keine Rituale, sondern nur Gleichaltrige. Ich versuchte mir möglichst schnell die Errungenschaften der vergangenen Jahre verständlich und alltäglich zu machen und brauchte etwa ein Jahr dafür. An der Schule hatte ich schnell den Ruf eines „Freaks“ weg und man gab sich nur wenig mit mir ab. Ich merkte schnell, dass ich einfach zu viel verpasst hatte in den letzten Jahren, und je mehr mir das bewusst wurde, desto intensiver versuchte ich natürlich das Versäumte nachzuholen.
Sagen wir, ich war erfinderisch und es fing mit Kleinigkeiten an; anfangs angepasst und aufmerksam, boykottierte ich den Unterricht nach und nach mit Fragen, die nicht zum Thema gehörten, sinnlosen Diskussionen und Unverschämtheiten. Einmal
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