Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
Erscheinung. Die perfekt toupierten Haare passen wie das Tüpfelchen auf dem i zu dem apricotfarbenen Wollkostüm und den dezent darauf abgestimmten Schuhen. Außerdem unterstreicht diese Art der Frisur die exquisiten Perlenohrringe, welche meine Kette um Längen in den Schatten stellen. Als letztes Accessoire hat sie diese seltsame Mischung aus einer Chanelhandtasche, die wie zufällig neben ihrem Sessel steht, und einem Hermès-Tuch gewählt, wie man sie nur bei einem ganz bestimmten Frauentyp vorfindet. Dazu hat sie einen leicht mürrisch-unzufriedenen Zug um die Mundwinkel. Ob ihr das mal jemand gesagt hat?
Eine Weile starre ich sie einfach nur an, denn ich dachte immer, ich würde mir Mühe mit meinem Outfit geben. Nicht dass ich diese Art Frau nicht schon zu Hunderten gesehen habe, aber manchmal erstaunt, ja, erschreckt es mich beinahe immer noch, wie perfekt diese Inszenierungen sind und mit welcher Selbstverständlichkeit all dieser offensichtliche Luxus zur Schau gestellt wird. Nun ja, jeder lebt in seiner eigenen Welt, und wenn man mit dem goldenen Löffel geboren wurde, kommt man wahrscheinlich gar nicht auf die Idee, dass dieser einem auch wieder weggenommen werden kann. Innerlich zucke ich mit den Achseln und wende mich dem zweiten Teil des Duos zu.
Neben „Mutti“ residiert ihre Tochter Jessica – eine Koryphäe des Klavierspiels. So viel wusste ich bereits nach der Vorstellung der einzelnen Personen. Sie trägt ein Kleid in Dunkelblau mit weißen Tupfen. Dazu einen passenden großen weißen Hut, weiße Handschuhe und ein keck um den Hals gebundenes Halstuch. Zweifelsohne auch Hermès. Kriegt man da eigentlich Prozente, wenn man die Dinger gleich dutzendweise bestellt? Ich schmunzele erneut. Dieses Outfit ist zwar auch schon nicht schlecht, aber Jessica übt wohl noch, um ihrer Mutter nachzueifern. Es wäre sicher passend für ein Polospiel, hier jedoch eine bisschen zu luftig für diese Jahreszeit, aber wir sind ja drinnen. Außerdem hätte dieses Outfit wohl eher in ein Rock’n’Roll-Musical gepasst.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter, deren Gesichtsausdruck mittlerweile gelangweiltes Interesse zur Schau stellt, zeigt Jessica der Welt ihre Version einer schlecht kopierten Marilyn Monroe Mimik. Permanent macht sie einen leichten Schmollmund, was ihrem Gesicht einen kantigen Schnitt gibt und wohl anziehend wirken soll. Dazu ist ihr Kopf in unablässiger Bewegung, was ihren frech gebundenen Pferdeschwanz dazu bringt, mal hierhin, mal dorthin zu zucken. Der Effekt ist ähnlich dem eines Stroboskops, und lange kann man sie nicht anschauen, ohne dass man selber ganz wuselig wird. Außerdem schielt sie die ganze Zeit ganz unauffällig zu dem weißen Flügel, so als wollte sie sagen: „Halloho, ich bin eine Koryphäe. Jetzt bittet mich schon, darauf zu spielen.“ Niemand tut es und aus dem gekünstelten wird zusehends ein echter Schmollmund.
Einen starken Gegensatz zu ihr bildet ihre Sitznachbarin in Form einer älteren Dame. Ihr Gesicht legt sich in circa eine Milliarde kleiner Falten, wenn sie spricht. Wer jetzt jedoch das Bild einer freundlichen, liebevollen Großmutter vor sich hat, der möge dies ganz schnell streichen. Madame, welche sich als Eliza Summerstone vorgestellt hat, hat es faustdick hinter den Ohren und versteckt dies unter perfekt inszenierter Senilität und Hilflosigkeit. Sie ist in ein Gespräch mit ihrem Nachbarn zur rechten Seite vertieft.
„ Wie spät ist es denn?“, höre ich sie sagen. „Ich muss langsam mal daran denken, wie ich zurück in meine Kabine komme. Mein kleiner Chester ist gar nicht gerne so lang allein.“
„ Es ist noch früh, Mrs. Summerstone. Wir haben gerade erst das Dinner beendet“, beruhigt sie eine jüngere Dame schräg hinter ihr. „Und Chester geht es gut. Ich habe gerade erst nach ihm gesehen. Er schläft ganz friedlich in seinem Körbchen.“
Mrs. Summerstone sieht ganz und gar nicht beruhigt aus. „Auf gar keinen Fall überlasse ich meinen kleinen Liebling einem Fremden“, fährt die alte Lady fort, als wäre sie überhaupt nicht unterbrochen worden. „Und schon gar nicht diesem Ausführservice.“
„ Warum nicht?“, mischt sich Mr. Brown auf der anderen Seite ein.
Mrs. Summerstone beugt sich zu ihm hinüber und will ihm wohl eine vertrauliche Antwort zuraunen. Allerdings war ihr „Raunen“ so laut, dass es mühelos den ganzen Saal unterhalten hätte. „Aber das ist doch ganz einfach.“ Sie klopft mit ihrem Stock auf den Boden.
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