Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
Herausforderung anzunehmen. In Jessicas Spiel schleichen sich mehr und mehr falsche Töne, so dass es mittlerweile tatsächlich Kopfschmerzen verursacht, ihr zuzuhören.
Sharroll fährt nun völlig ruhig und dessen ungeachtet fort: „Wenn Mozart gewollt hätte, dass die Zweiunddreißigstel wie Sechzehntel gespielt werden sollen, dann hätte er es auch so aufgeschrieben.“ Dem Argument ist nichts hinzuzufügen.
Jessica hört mit einer abrupten Bewegung auf zu spielen. Der Flügel gibt dabei einen sehr unschönen Ton von sich. „Ach ja? Wo hast du das denn gelernt?“, faucht sie. „Etwa im Blockflötenunterricht?“
Sharroll ist für einen Moment irritiert. „Wie kommst du darauf, dass ich Blockflöte spiele?“
Ein vernichtender Blick trifft sie und Jessicas Ton wird pampig: „Na, weil du nach Blockflöte aussiehst.“ Sie tippt sich kurz an den Kopf.
Sharroll bleibt sowohl bei der Geste als auch bei den Worten gelassen – und ich muss gestehen, dass ich sie dafür bewundere. Mit mir dürfte Jessica nicht so umspringen. Freundlich entgegnet sie: „Die Sonate-Nr. 16 ist zufälligerweise eins meiner Lieblingsstücke und es tut weh zu hören, was du daraus gemacht hast, Jessica.“
Jemandem einfach so die Wahrheit ins Gesicht zu sagen ist eine Kunst für sich und für einen Moment herrscht erneut Schweigen in unserer Runde.
„ Ach so!“, quietscht Jessica. „Dann mach es doch besser, wenn du kannst.“ Pikiert erhebt sie sich von der Klavierbank. Sie bewegt sich jedoch nicht weg, sondern bleibt mit tippendem Fuß und verschränkten Armen daneben stehen. Du meine Güte, kann dieses Kind bockig sein.
Sharroll bleibt unbeeindruckt sitzen. „Das habe ich nicht nötig“, erklärt Sharroll kategorisch und verschränkt ihrerseits die Arme vor der Brust.
„ Was heißt hier nicht nötig?!“, mischt sich Petunia ein. „Erst beleidigst du meine Tochter, und dann auch noch feige sein.“
Sharroll fixiert sie. „Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das Du angeboten zu haben.“
Holla – mein erster Impuls, diesem Mädchen notfalls beizustehen, hat sich als falsch herausgestellt. Sie kann ganz gut auf sich selbst aufpassen.
Petunia ringt empört nach Luft. „Also … also, da hört sich doch alles auf“, echauffiert sie sich, während ich Sharroll im Stillen Applaus spende.
Mrs. Summerstone klappt den Mund zu und Mr. Brown scheint unschlüssig, welche Partei er unterstützen soll.
Allein Collin betrachtet die Szenerie ebenso wie ich mit wachsender Begeisterung. Allerdings stört mich der boshafte Zug um seine Nase.
Er lehnt sich zurück und mustert beide Mädchen. „Verehrte junge Dame“, wendet er sich dann an Sharroll. Sie sieht ihn abschätzend an. „Ich muss den beiden Damen leider vollkommen recht geben.“
Sharroll sieht ihn gleichmütig an. „Wie das?“
„ Nun ja“, Collin räuspert sich. „Sie haben es so dargestellt, als würde die begabte Jessica das von ihr ausgewählte Stück nicht korrekt spielen.“ Bei dem Wort „begabt“ zucken Sharroll und ich gleichzeitig leicht zusammen. Sharroll nickt und Collin fährt fort. „Sosehr wir Ihrem Wort auch Glauben schenken möchten, umso mehr fehlt uns doch der Vergleich. Verstehen Sie?“ Was für ein arroganter, kleiner Schleimsch… Der Rest ist zensiert.
Aber seine Rede wirkt, denn Sharrolls Fassade bröckelt langsam. Collin spricht im gleichen seidig-freundlichen Ton weiter: „Hätten Sie vielleicht die Güte, es uns nach Ihrer Fassung vorzuspielen?“
Was soll ich sagen? Sharroll schätzt die Situation richtig ein, wie ihre nächsten Worte erkennen lassen. „Sie meinen, ich habe keine andere Wahl, richtig?“
Collin nickt. „Richtig.“
Sharroll seufzt und murmelt dann etwas vor sich hin, das ein bisschen nach „Hätte ich doch nichts gesagt“ klingt. Aber dafür ist es jetzt leider zu spät.
Schweren Schrittes steht sie auf und schreitet zum Klavier. Dabei strafft sich ihr Rücken jedoch merklich, als sie vor Jessica stehen bleibt. Ein kleines Blickduell entsteht zwischen den beiden und Jessica unterliegt. Wortlos gibt sie Sharroll den Weg frei und diese nimmt auf dem Klavierhocker Platz. Beinahe bedächtig legt sie die Finger auf die Tastatur und scheint irgendetwas in ihrem Inneren nachzuspüren.
Jessica scheint das alles viel zu lange zu dauern. „Nur zu“, giftet sie gönnerhaft. „Jetzt zeig mir doch mal, wie das richtig geht.“
„ Jessica!“, zischt Petunia, der diese Äußerung entweder zu weit geht oder
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