Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
ist nervös und aufgeregt, ja beinahe panisch. Ich kann ihre rasenden Gedanken beinahe auf ihrer Stirn lesen. Sie scheint zu überlegen, ob es nicht das Einfachste sei, den Flohwalzer zum Besten zu geben und sich dann dem Spott und dem Gelächter der Umstehenden zu stellen – doch dann reißt sie sich zusammen.
Sie starrt noch für einen weiteren Moment die Noten an und Jessica kichert albern, so als würde sie gekitzelt. Der junge Mann sieht Sharroll erwartungsvoll an und für einen Moment begegnen sich ihre Blicke. Und just in dem Augenblick geschieht etwas zwischen den beiden, was nicht mit Worten zu erklären ist. Es ist beinahe so, als würde ein Funken seines Selbstvertrauens auf sie überspringen, und ganz selbstverständlich beginnt Sharroll zu spielen.
Die ersten paar Takte scheinen ihre Finger noch schwerfällig, so als hätten sie lange nicht mehr diese Tätigkeit ausgeübt. Doch es wird zusehends besser und ihr Spiel flüssiger. Auch scheint sie sich zunehmend zu entspannen und wohl damit zu fühlen, denn die Töne, die sie dem Flügel entlockt, sind der absolute Wahnsinn. Nichts im Vergleich mit Jessicas plumpem Geklimper. Ja, so muss ein Klavier klingen, denke ich, während ich meine Sitznachbarn verstohlen mustere. Sie alle sind … irgendwie … begeistert? Berauscht? Irritiert? … Vielleicht auch einfach nur von Sharroll angetan.
Bis auf Jessica natürlich. Je besser Sharroll spielt, desto finsterer wird ihre Miene. Vor allem, da sie zusehends bemerkt, dass Sharroll das Stück ohne Zuhilfenahme der Noten meistert. Sie scheint es aus dem Gedächtnis zu spielen und das ist nicht einmal das Erstaunlichste daran. Jeder Fingersatz sitzt perfekt und als sie den ersten Teil des Stückes beendet, sind wir nicht mehr allein.
Die Gespräche im Salon sind gänzlich verstummt und alle Blicke richten sich auf Sharroll, welche dies aber nicht bemerkt. Sie scheint ganz vertieft in ihr Spiel zu sein und die Welt um sich herum vergessen zu haben. Wahnsinn – was für ein Talent. Als Sharroll die Sonate beendet, scheint es, als nähme die Zeit mit einem hörbaren Klicken ihre Tätigkeit wieder auf. Irgendwie sind wir alle, inklusive mir, in einem Moment der Ewigkeit gefangen gewesen, so dass wir uns zeitlos gefühlt haben. Naja, also ich zumindest. Irgendwas in mir ist völlig berauscht, und nachdem der Moment der absoluten Stille durch den ersten Beifall beendet worden ist, kann ich mich nur schwer beherrschen.
Begeistert lasse ich mich von dem einsetzenden Jubelsturm einfangen und Sharroll erhält stehende Ovationen. Ein wenig verlegen steht sie von der Klavierbank auf und verbeugt sich höflich. Das ist mal ein Bild! Eine klassische Schönheit vor dem klassischen Instrument der schönen Künste. Der Applaus verebbt nur langsam und man verlangt lautstark nach einer Zugabe. Sharroll ist unschlüssig, doch zu guter Letzt tut sie dem Publikum den Gefallen. Aus einem Stück werden zwei, drei und vier.
Sharroll lockert mit jedem weiteren ein Stückchen mehr auf und man sieht ihr die Leidenschaft für dieses Instrument an, ebenso wie ihre Begeisterung für die Musik an sich. Irgendwann bemerke ich, dass sich Jessica und ihre Mutter abgesetzt haben. Diese Niederlage war wohl doch zu viel für sie. Wie schade, jetzt wird die arme Jessica wohl niemals die Filmmusik für einen der bedeutendsten neuen Kinofilme schreiben. Das ist wirklich, wirklich schade. Aber, wie sie schon so richtig gesagt hat: Sie ist eine Konifere.
Nach Sharrolls letztem Stück – ein freundlicher Angestellter des Cafés weist uns diskret darauf hin, dass dieses in Kürze seine Türen schließen wird – stürzt sich Collin förmlich auf sie. „So etwas habe ich ja noch nicht erlebt!“, begeistert er sich und will Sharroll einen Handkuss geben. „Sie haben tatsächlich Hände aus purem Gold, meine Liebe.“
Sharrolls Haltung ihm gegenüber hat sich jedoch nicht geändert und so entzieht sie ihm die Hand ebenso schnell, wie er nach ihr gegriffen hat.
Collin lässt jedoch nicht locker. „Ich möchte Sie unbedingt für meinen Film engagieren.“
Sie starrt ihn halb verdutzt, halb amüsiert an. „Danke, aber ich verzichte“, erwidert sie nur kühl. Bravo Kleines!
Nun ist es an Collin, verdattert in die Gegend zu schauen. „Aber … ich könnte aus Ihnen einen großen Filmstar machen“, stammelt er, um sich dann sofort zu verbessern. „Nein, ich könnte nicht, ich werde.“
„ Ich sagte bereits, dass ich verzichte.“ Sharrolls Miene
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