Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
der vorherigen Garderobensuche verlassen wir uns anfangs auf die Empfehlungen der Verkäuferin, doch dies stellt sich hier als genauso schwierig heraus wie in der anderen Abteilung. Die Verkäuferin hat in mir die pflegeleichte Kunden wiedererkannt, der sie das weinrote Abendkleid verkauft hat, und nun ist sie sicher, meinen Geschmack zu kennen.
Mein Einwand, die Gala auch in diesem Kleid bestreiten zu können, interessiert Alex nicht. „Ich kenne die Summen, die Seine Lordschaft in seine … Bekanntschaften zu investieren gedenkt.“ Für einen Moment habe ich den Eindruck, dass er noch etwas ganz anderes sagen wollte, sich dann aber doch umentschied, und erneut wird mir bewusst, wie schwer dieser Mann zu lesen ist.
Seine Mimik gibt nur sehr wenig von dem wieder, was in seinem Inneren vor sich gehen mag, und er bleibt ein Rätsel – oder eine Herausforderung? Allerdings habe ich es auch nicht eilig damit, ihn zu durchschauen.
Entschlossen fährt er fort. „Also machen Sie sich keine Sorgen, dieses Budget ist noch lange nicht ausgeschöpft.“
Ich will etwas erwidern, doch eine zischende Stimme reißt mich aus meinem Gedankenfluss. „Das ist jetzt schon der dritte Laden, in den sie ihn schleppt und sein Geld verpulvert. Sie sollte sich was schämen!“ Ein bekräftigendes Brummen folgt dieser Aussage und ich schaue in die Richtung, aus der diese Geräusche kommen. Die Sprecher sind Altbekannte: Christopher und Melody Summers. Sie stehen am anderen Ende des Ladens, beinahe 100 Schritte von uns weg, und doch hat mein Radar diesen Gesprächsfetzen aufgefangen. Schön, dass ich mich darauf anscheinend verlassen kann. Aber hätte es mir nicht andere Worte vermelden können? Irgendwas ist ja immer.
Eigentlich will ich sie ausblenden, doch irgendetwas bringt mich dazu, ihnen weiter zuzuhören, obwohl sie die Köpfe zusammenstecken und ich meine Sinne um einiges erweitern muss, um sie zu verstehen. „Hast du gesehen, wie ekelhaft sie sich vorhin in dem Anzug bewegt hat? Ganz so, als würde sie sich öffentlich ausziehen wollen. Schlecht hätte einem dabei werden können.“
Er nickt bestätigend. „Schamlose Person“, entgegnet er leise. „So etwas sollte verboten werden. Immerhin wollen auch anständige Leute einkaufen.“
Ich bin sprachlos und schwanke zwischen Amüsement und Entrüstung hin und her. Das mintgrüne Chiffonkleid, welches Alex eben versteckt auf einer Kleiderstange entdeckt hat, ist vergessen. Ich bin so sehr damit beschäftigt, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten, als er es mir präsentieren will, dass er, aufmerksam wie eh und je, nun seinerseits meinem Blick folgt und das Pärchen entdeckt. Allerdings hat er den Wortwechsel natürlich nicht gehört und kann meinen Gesichtsausdruck noch nicht nachvollziehen. „Also, so schlimm ist das Grün nun auch nicht …“, versucht er zu witzeln, ich reagiere jedoch nicht darauf. Wortlos zieht er eine Augenbraue hoch. „Alles in Ordnung, Miss Ashton?“
„ Jetzt beruhige dich doch bitte, Melody, und sieh dir dieses Kleid an. Das würde dir sicher gut stehen.“ Sie wirft einen Blick auf den sackartigen Ballon, den ihr Christopher entgegenhält, und ich muss ein Lachen unterdrücken.
„ Ja, das sieht sehr schön aus“, erklärt sie und hält es sich an den Körper. „Dennoch musst du mir doch recht geben, Christopher, dass sie gegen die Gebote Gottes verstößt, wenn sie weiterhin hurt.“
Unmerklich zuckt es in Alex’ Gesicht, während sich in mir heiße Wut zusammenbraut. „Miss Ashton?“ Das hat mir gerade noch gefehlt – religiöse Fanatiker, die nichts Besseres zu tun haben, als ihr eigenes Fehlverhalten und ihre fanatischen Ansichten unter dem Deckmantel christlicher Nächstenliebe und blinder Frömmigkeit verbreiten. Ein leichtes Knurren entringt sich meiner Kehle und Alex sieht mich irritiert an.
Das Kleid hat er sich nun ordentlich über den Arm gelegt, und es bewirkt einen schönen Farbtupfer auf dem gepflegten Schwarz des Jacketts. Beinahe hat es den Anschein, als würde eine farbige Stola über dem Talar eines Priesters liegen. Dieses Bild ruft eine tatsächlich tief vergrabene Erinnerung in mir wach und unaufhaltsam zuckt sie durch meinen Kopf.
An einem Nachmittag im Spätsommer hatte Tricia ein ungutes Gefühl bei unseren gemeinsamen Streifzügen durch die Stadt und wir kehrten früher zurück, als ich es gewohnt war. Mein Vater erwartete uns bereits ungeduldig. Er war sehr böse mit ihr, weil sie mit mir in
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