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Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myrna E. Murray
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verstanden. Eine erste Regung von Empörung zeigt sich in seinem Gesicht und ich habe das Gefühl, dass mir dieses Gespräch die Schamesröte ins Gesicht treiben sollte – tut es aber nicht.
    Mein Blick verfinstert sich und für einen Moment bin ich versucht, beide einfach über die Kleiderständer hinweg anzuspringen und ihnen kurzerhand die Kehlen herauszureißen. Allein eine enorme Willensanstrengung und die Kraft, die mir Bens Blut dafür gibt, reichen aus, um mich unter Kontrolle zu halten. Dennoch bin ich kurz gewillt den Gedanken in Betracht zu ziehen, dass auch auf einem Schiff dieser Größe mysteriöse und sehr endgültige Unfälle passieren können.
    Alex’ Gesichtsausdruck verfinstert sich. Ohne dass ich weiter etwas dafür tun muss, schiebt er sich an mir vorbei und auf das Pärchen zu. Melodys Stimme, die an meinen Nerven kratzt wie Fingernägel auf einer Schiefertafel, dröhnt nun wie durch einen voll aufgedrehten Verstärker zu mir. Alle anderen Geräusche habe ich ausgeblendet und nehme sie nur noch wie ein leises Summen um mich herum wahr.
    „ Ich sage dir, Christopher“, fährt sie unbeirrt fort. „Sie verstößt gegen Gottes Gesetz und ist eine Sünderin. Früher hätte man sie gebrandmarkt, öffentlich ausgepeitscht und mit einem Schandkittel behängt davongejagt. Schade, dass diese Praxis aus der Mode gekommen ist.“ Sie kichert bösartig, fährt aber unwillkürlich zusammen, als sie meine kalte und nun gar nicht mehr menschliche Stimme hinter sich vernimmt.
    „ Ich kann mich nicht erinnern, dass Freundschaft und Dankbarkeit Todsünden sind, Verehrteste. Hochmut und Neid allerdings schon.“
    Kreidebleich fährt sie herum und starrt mich an. Ich kann die Angst in ihren Augen sehen, sie sogar bereits riechen. Sie ist wie gelähmt, was zum Teil an dem Schrecken liegen mag, den ich ihr mit meinem plötzlichen Auftauchen eingejagt habe, zum Teil aber auch an meiner durch meine Wut nun übermenschlich furchteinflößende Ausstrahlung, die sich fast wie von selbst eingestellt hat.
    Nur langsam erwacht sie aus ihrer Starre und dann verhält sie sich für einen Moment wie ein in die Enge getriebenes Tier. Sie versucht nach links und rechts auszubrechen, doch ich lasse ihr keine Möglichkeit. Der Kleiderständer, gegen den sie beim Zurückweichen stößt, stoppt ihren Weg abrupt und ich fahre fort.
    „ Ist es nicht Gottes Gebot, kein falsches Zeugnis gegen deinen Nächsten abzulegen?“ Sie schluckt schwer. „Und ist es nicht ferner eine Kardinalstugend Gerechtigkeit walten zu lassen?“ Christopher will auf mich zutreten, doch mein brennender Blick lässt ihn zurückweichen.
    Melody hat sich ein wenig gesammelt und will nun die Waffen mit mir kreuzen.
    „ Es gehört zu den sieben Werken geistiger Barmherzigkeit, die Sünder zurechtzuweisen, und Unkeuschheit ist und bleibt eine Todsünde“, erklärt sie voll Selbstzufriedenheit und ich lächele. Sie will sich wirklich mit mir messen. Nun gut.
    „ Derjenige, der ohne Sünde unter uns ist, der werfe den ersten Stein!“, entgegne ich und starre ihr direkt in die Augen. „Außerdem interpretieren Sie dieses Gebot der Barmherzigkeit falsch“, erkläre ich kategorisch. „Aber ich erläutere Ihnen gerne, was es tatsächlich bedeutet. Es bedeutet nicht an den Pranger stellen, sondern warnen; nicht vor den Kläger führen, sondern in Sicherheit bringen. Sündigen heißt fallen. Sünder zurechtweisen bedeutet, liebevoll dem Fall zuvorkommen oder zur Hilfe eilen, um aufzurichten.“
    Einen Moment lasse ich meine Worte wirken und bin das erste Mal in meinem Leben fast ein wenig dankbar für die harte Erziehung meines Vaters. Aber nur beinahe. Alex neben mir scheint verwirrt ob dieser theologischen Grundsatzdiskussion, und etwas zuckt kurz in Christophers Gesicht. Ich kann mich aber nicht um alle gleichzeitig kümmern und so bleibt Melody mein bevorzugtes Opfer. Ich beuge mich leicht vor und kann ihre Angst jetzt förmlich schmecken. „Davon sind Sie meilenweit entfernt.“
    Sie sieht mich triumphierend an: „Dann geben Sie also zu, dass Sie sündigen?“
    Da ich auf diese Auslegung gewartet habe, erwidere ich gelassen: „Mitnichten. Aber, um bei den sieben geistigen Barmherzigkeiten zu bleiben: Ich verzeihe das erlittene Unrecht in Form Ihrer Beleidigungen und ertrage diese Last, ohne darüber zu klagen.“
    Christopher nickt unmerklich, so als hätte er meine Worte vorausgeahnt. Was merkwürdig ist, aber da ich beide für bibelfest halte, nicht

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