Nachtengel
sie selbst hat sie doch rausgeschmissen, oder? Der Koch dreht durch, aber sie wollte ja nichts hören.«
Lynne nahm ihre Tasche und fragte: »Vielleicht wollte sie Leute, die Englisch sprechen?«
Die Frau nickte nachdrücklich. »Ist auch Zeit«, sagte sie. »Gequassel und Geplapper. Kein Wort hat man verstanden. Wie diese Anna.«
Lynne verließ das Hotel zum zweiten Mal. Sie dachte nach. Es sah also so aus, als hätte Celia Fry mehr als eine illegale Immigrantin beschäftigt. Farnhams Androhung, sich die Einstellungspraxis des Hotels genauer anzusehen, hatte Fry in Panik versetzt, und sie hatte die Mitarbeiter, die nicht in der Buchhaltung auftauchten, entlassen. Lynne verstand, wie attraktiv es für ein Billighotel wie das Blenheim war, Immigranten zu beschäftigen. Sie waren billige, arbeitswillige Kräfte. Und es hatte sich herumgesprochen, dass es hier Arbeit gab.
Lynne dachte über die Beratungsstelle nach. Kannte man dort das Blenheim? Matthew Pearse schien über die Lage der illegalen Immigranten recht gut informiert zu sein. Jemand hatte Anna Krleza zu dem Hotel geschickt. Lynne dachte an ihren letzten Besuch dort, als sie Pearse und Rafiq gefragt hatte, ob sie Krleza kannten. Nasim Rafiq war zum Angriff übergegangen: »Diese Frau, andere Frau. Warum?« Und Pearse hatte ihre Frage nicht beantwortet. Er war abgeschweift und hatte eine Diskussion über die Situation solcher Frauen angefangen – Opfer eines Verbrechens, die sich nicht an die Behörden wenden konnten, weil sie als Straftäter behandelt wurden. Leichte Beute für Zuhälter und Menschenhändler.
Lynne hatte während ihrer Jahre bei der Polizei genug Menschen verhört, um zu wissen, wie sie sich verhalten, wenn sie die Wahrheit sagen und wenn sie lügen. Sie wichen meist aus oder drückten sich um die Antwort, statt direkt die Unwahrheit zu sagen. Weder Nasim Rafiq noch Matthew Pearse hatten abgestritten, Anna zu kennen. Die Frage war, wussten sie, wo sie sich zur Zeit aufhielt? Lynne war sich des Konflikts zwischen ihrer eigenen Arbeit und der Aufgabe, die sie für Farnham erledigte, bewusst. Farnham wollte jede Information von Pearse, und zwar bald. Lynne brauchte dagegen einen Zugang zu der Welt der illegalen Einwanderer, sie suchte eine Möglichkeit, die Frauen zu erreichen und ihnen klar zu machen, dass sie ihnen helfen konnte. Das würde Zeit und Geduld erfordern. Sie würde sich mit Nasim Rafiq befassen und Farnhams Untersuchung nutzen, um die Frau unter Druck zu setzen, damit sie mit ihr sprach. Sie sah auf die Uhr. Es war Zeit, der Beratungsstelle einen weiteren Besuch abzustatten.
Sheffield, Freitagabend
Roz war allein in der Abteilung. Sie hatte sich so in die verschiedenen Probleme des Systems vertieft, an dem sie mit Luke gearbeitet hatte, dass es sechs Uhr war, bevor sie es merkte. Die Putzfrauen waren um sechs fertig, die letzten Mitarbeiter hatten ihre Büros verlassen, und Stille hatte sich auf Stockwerk N gesenkt. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach sechs. Sie konnte etwas Zeit damit verbringen, sich Holbrooks Archiv anzusehen. Vielleicht konnte sie dem alten Brummbär ein bisschen Honig um den Bart schmieren, indem sie ihm zu seiner Errungenschaft gratulierte. Nachdem sie eine Weile im Archiv geschmökert hatte, wusste sie zwar nicht mehr über Gemma, war aber beeindruckt, wie gut und leicht die Daten zu finden waren. Sean Lewis kannte sich offenbar aus. Sie hätte es gerne Luke gezeigt, um zu sehen, ob es ihn auf Ideen für ihre Datenbank der Verhöre brachte, obwohl das, was sie zu tun versuchten, viel schwieriger war als alles, was Holbrook und Lewis erstellt hatten. Sie schaltete den Computer aus, steckte die CD weg und sah wieder auf die Uhr. Viertel vor sieben. Die Zeit war schnell verflogen. Was hatte Holbrook gesagt? »Aber es wird wohl kaum vor halb sieben sein.«
Sie war müde. Es war ein harter Tag gewesen, und sie wollte nach Hause gehen. Sie würde am nächsten Morgen zu ihrer Schwiegermutter fahren, und es würde ein weiterer schwieriger Tag werden. Bevor sie nach Hause ging, musste sie ihre Post im Büro hinterlegen. Sie würde das jetzt tun, und wenn sie zurückkam, würde Holbrook da sein. Wenn er bis sieben Uhr nicht gekommen war, würde sie nicht länger warten.
Im Flur war es dunkel. Nur die Notbeleuchtung war noch eingeschaltet. Die Hausmeister hatten gedacht, dass niemand mehr in der Abteilung war. Sie ging an der Treppe vorbei auf die Aufzüge zu. Das Büro lag auf der anderen Seite. Sie hörte
Weitere Kostenlose Bücher