Nachtengel
nicht losließen. Beim Lunch hatte Luke das Thema Gemma ausdrücklich vermieden und redete stattdessen über die Software, die sie entwickelten, um die Daten von Vernehmungen zu analysieren, und vom neuesten Tratsch in der Abteilung über die Fehde zwischen Joanna und Peter Cauldwell.
Dies führte zu einer Diskussion über die Weiterentwicklung der Gruppe – ein Gespräch unter Kollegen. Bei jeder anderen Gelegenheit wäre es eine angenehme, entspannende halbe Stunde gewesen, typisch für die Unterhaltungen, die sie und Luke in der ersten Zeit, nachdem sie nach Sheffield gekommen war und in der Forschungsarbeit Fuß zu fassen suchte, oft miteinander geführt hatten.
Aber es war nur eine kleine Oase der Ruhe inmitten eines zunehmend hektischen Tages gewesen. Sie machte sich Kaffee und ging ins Arbeitszimmer, wo sie vor dem Spiegel stehen blieb. Draußen war es dunkel, nur das Mondlicht erhellte das Zimmer. Es war ein schlechter Tag gewesen, an dem Joannas schlimmste Eigenschaften zum Vorschein gekommen waren. Ihre sonst reibungslos funktionierende Tüchtigkeit wurde zur Hektik, mit der sie alle tyrannisierte, während sie versuchte, mit einer Situation fertig zu werden, die sie nicht verstand.
Dann die Sache mit dem Bericht. Als Joanna sie mit der Nachricht von DI Jordans Anruf begrüßte, hatte Roz ihr zugesichert, Gemmas Bericht könne sofort abgeschickt werden, was Joanna etwas besänftigt hatte. »Du hättest ihn am Freitag schicken sollen«, sagte sie. »Es war ja klar, dass Gemma nicht vorhatte, zu kommen und ihn fertig zu machen.« Es war überhaupt nicht klar gewesen, aber Roz hatte nichts gesagt, weil sie wusste, dass Joanna etwas brauchte, über das sie sich ärgern konnte, etwas relativ Unwichtiges, über das sie sich hinwegsetzen konnte. »Und am nächsten Montag ist wieder ein Treffen in Manchester«, fuhr Joanna fort. »Ich kann nicht gehen. Du wirst daran teilnehmen müssen. Du solltest jemanden anrufen, damit sie dir das Protokoll schicken.«
Roz hatte sich über das letzte Meeting in Manchester informiert, aber sie hatte es nicht geschafft, sich um den Bericht zu kümmern. Als sie vom Mittagessen zurückkam und ihn aus Gemmas Büro holen wollte, war er nicht da. Sie hatte im Aktenschrank nachgesehen, in den Schreibtischschubladen, auf den Fensterbänken, sogar auf dem Boden und ganz hinten im Aktenschrank. Er war nirgends. Und dann wurde ihr langsam unbehaglich. Sie erinnerte sich, dass sie ihn auf dem Bildschirm gelesen hatte, aber hatte sie ihn auch ausgedruckt? Sie war wegen der Konferenz und des Ärgers, dass Gemma nicht erschienen war, unkonzentriert gewesen und hatte außerdem an ihre Vorlesung gedacht.
Sie versuchte, sich ganz genau an den Freitagvormittag zu erinnern. Sie hatte die Datei in Gemmas Computer gefunden. Dann hatte sie den Bericht gelesen, ja … während er ausgedruckt wurde. Sie hatte ihn ausgedruckt. Dann war sie zu Luke gegangen, hatte aber den Bericht zusammen mit der Abschrift des Tonbands und Gemmas Notizen auf ihren Schreibtisch gelegt. Das war's. Auf ihrem Schreibtisch hatte ein Stoß Papiere gelegen, Arbeit, die sie heute erledigen wollte. Sie musste den Bericht falsch abgeheftet und ihn irgendwo mit in ihre eigenen Unterlagen gesteckt haben.
Sie hatte systematisch alle ihre Akten durchgesehen, denn sie wusste, wie leicht ein paar Blätter Papier verschwinden konnten, aber er war nicht da. Und sie hatte Joanna nicht darüber informiert, hatte sich gedrückt. Sie sagte sich, er könnte zwischen Papiere geraten sein, die sie mit nach Hause genommen hatte. Jetzt musste sie nicht nur Joanna beichten, dass der Bericht fehlte, sondern auch, dass sie ihr diese Tatsache einen ganzen Tag lang verschwiegen hatte. Wenn der Bericht nicht auffindbar war, hätte DI Jordan sofort informiert werden müssen. Dies war wieder etwas, das der Professionalität der Gruppe schaden würde.
Sie war versucht, Luke anzurufen und bei ihm ihre Sorgen abzuladen, aber das war nicht fair. Er musste mit Gemmas plötzlichem Verschwinden fertig werden, und in seiner Lage war es besser, wenn er mit Joannas Wut nichts zu tun bekam. Joanna hatte behauptet und versucht, es so darzustellen, dass es an Luke liege, dass sie keine Sicherungskopien hatten. Roz hatte dies sogleich aufgegriffen, und Joanna musste widerwillig zugeben, dass sie selbst die Verantwortung dafür trug. Aber Roz wusste, dass Joanna Luke immer als jemanden ansehen würde, der die Wichtigkeit eines Systems zur automatischen
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