Nachtengel
Taschentuch, wischte sich die Augen und schnäuzte sich. Die Fotos gehörten der Vergangenheit an. Sie sollten fest verschlossen und vergessen in ihrer Schachtel liegen. Es gab Wichtigeres, über das sie nachdenken musste.
Es regnete. Sie hörte die Tropfen ans Fenster schlagen und auf den Boden trommeln, zog die Vorhänge zu und sah auf ihre Uhr. Es war fast neun. Vielleicht sollte sie diesen Abend einfach abschreiben. Sie konnte ein Glas Wein trinken – aber in einer solchen Stimmung wäre Alkohol gefährlich. Sie könnte ein Bad nehmen und früh zu Bett gehen, aber eigentlich war sie nicht müde. Als sie frustriert und unentschieden dastand, klopfte es.
Es war zu spät, niemand würde einfach so vorbeikommen. Sie ließ die Kette beim Öffnen vorgelegt. Auf der Schwelle stand Luke mit hochgezogenen Schultern, aufgestelltem Jackenkragen und triefnassen Haaren. Sie machte die Tür zu und löste die Kette. Er kam herein und schüttelte, so gut es ging, die Regentropfen ab. »Wen hast du erwartet, Bishop?«, fragte er gereizt. »Hannibal Lecter?« Sie sah entrüstet, dass er nur Jeans und eine leichte Jacke trug. Er sah aus, als sei er nass bis auf die Haut, und er zitterte.
»Mein Gott, Luke«, sagte sie. »Was ist denn mit dir los?« Sie führte ihn in die Küche und schob ihn vor den Herd. »Hier.« Sie gab ihm ein Handtuch und sah zu, wie er sein tropfendes Haar trockenrieb.
Er verzog das Gesicht, halb Lächeln, halb Grimasse, griff in seine Jackentasche und zog eine Flasche Wein heraus. »Die Idee kam mir vorhin ganz gut vor«, sagte er. »Ich hab das Motorrad hinters Haus gestellt. Ist das in Ordnung? Ich wollte mit dir über etwas reden. Und ich brauchte Gesellschaft.« Er runzelte leicht die Stirn, als er sie ansah. »Du siehst auch aus, als könntest du Gesellschaft vertragen.«
Ihre Nase und Augen waren wahrscheinlich noch rot vom Weinen, dachte sie bedrückt. Sie lächelte Luke zu und merkte, dass ihre Augen schon wieder feucht wurden. Sie schniefte und wühlte vergebens in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.
»Hier«, sagte er hilfsbereit und bot ihr seinen Ärmel an. Sie mussten beide lachen und Roz fühlte sich besser, obwohl ihr Lachen etwas leicht Hysterisches hatte.
»Tut mir Leid«, sagte sie und nahm das Handtuch, um Nase und Augen abzuwischen. »Wein ist eine prima Idee. Komm rein, hier ist es bequemer.« Sie führte ihn ins Arbeitszimmer, legte die Bilder wieder in die Schachtel zurück und verstaute sie auf einem Regal. Sie sah sich nach einem Korkenzieher um.
Luke setzte sich an den Tisch. »Ich mache deine Sessel ganz nass«, erklärte er. Er nahm etwas in die Hand. »Ist das dein Mann?«, fragte er.
Sie drehte sich um. Er betrachtete ein Foto, das sie beim Aufräumen übersehen haben musste. Es war ein Schnappschuss, sie und Nathan auf den Clifton Downs in der Nähe der Avonschlucht, einer ihrer Lieblingsplätze zum Wandern. »Ja«, sagte sie und wandte sich ab. Der Spiegel schimmerte über dem Tisch.
»Du hast nie über ihn gesprochen, Roz.« Sie sah ihn nicht an. »Es hat mal eine Zeit gegeben, da hättest du mir von ihm erzählen sollen, das weißt du doch.« Sie konnte noch immer nichts sagen. »Du bist seit mehr als zwei Jahren von ihm getrennt. So was passiert, Roz. Menschen werden krank oder alt, sie sterben. Doch man muss weiterleben.«
Sie stand mitten im Zimmer und sah sich selbst im Spiegel wie ein Porträt aus früheren Jahrhunderten, das von seinem dunklen Platz her zusah, im Schatten verloren, während um sie herum geflüsterte Worte schwebten. Trügt nicht der Schein … Meine Rosalinde. Sie dachte an den Erinnerungsfaden, nach dem man jeden Morgen greift, wenn man aus dem Schlaf erwacht. Sie dachte daran, wie es war, wenn dieser Faden riss und man losgelöst in der Gegenwart kreiste. Es trügt der Schein, Nathan. Jetzt nicht mehr.
Nathans Krankheit war plötzlich ausgebrochen und ernst, ja lebensbedrohlich gewesen. An dem einen Tag ging es ihm noch gut, am nächsten war er blass, untypisch reizbar und klagte über Müdigkeit und Kopfschmerzen. Sie hatten Witze gemacht über Katzenjammer und über Leute, die sich davor drücken wollten, in Urlaub zu fahren. Am Abend wurde er in die Klinik eingeliefert, denn er war ins Koma gefallen, aus dem er erst nach vier langen Tagen und Nächten wieder erwachte. »Es ist ein Virus«, hatte der Neurologe gesagt. »Er schädigt das Gehirn.« Dann hatte er etwas über ›bilateral betroffen‹ gemurmelt und ließ sie mit dem
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