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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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auf die sie sechs Monate gewartet hatte, waren weg. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Sie konnte nichts tun. Gerne hätte sie einfach still dagesessen, aufgegeben, sich hingelegt und geschlafen. Anna … Anna … bevor es zu spät ist …
    Sie beruhigte sich und sah sich um. Dann fand sie zwei Einkaufstüten und stopfte mit langsamen, unbeholfenen Bewegungen den Rest ihrer Sachen hinein. Einen Moment stand sie still und horchte, aber das Gefühl dringender Eile hatte sich verloren. Sie hörte unten eine Tür zuschlagen, die Haustür, glaubte sie.
    Das Mondlicht war gewandert und schien jetzt aufs Bett und an die Wand. Sie sah das Muster des Fensters und die Schattengestalt der Holzkatze auf dem Sims. Sie würde die Katze mitnehmen, konnte sie nicht hier lassen. Die Luft schien jetzt schwer und stickig, in den Rohren klopfte und zischte es, und etwas atmete in der Dunkelheit hinter ihr.
    Sie hörte ein metallisches Geräusch, etwas, das gegen Eisen schlug. Etwas bewegte sich vor den Schatten auf dem Bett und verdunkelte die Umrisse der Katze. Starr und unbeweglich vor Schreck sah sie den Schatten von jemandem, der draußen vor dem Fenster auf der Feuerleiter stand und die Hände an den Fensterrahmen legte.
    Sheffield
    Roz wusste, dass sie die Fotos nicht ansehen sollte. Sie waren nicht in ein Album eingeordnet oder gerahmt, sondern sie hob sie in einer Schachtel auf einem Regal auf. Nachdem sie Bristol verlassen hatte, hatte sie sie weggestellt und versucht, sie zu vergessen und in ihrem Leben weiterzukommen. Es hatte keinen Sinn, über Erinnerungen nachzugrübeln. Sie vermied Kameras, außer wenn es unumgänglich war und sie für den Pass und ihren Universitätsausweis ein Foto benötigte. Bei einer Feier der Abteilung hatte sie sich, als sie merkte, dass die Kamera auf sie gerichtet war, mit halb abgewandtem Gesicht und dann noch einmal bei der Hochzeit einer Freundin steif und unpersönlich lächelnd fotografieren lassen. Aber die Schachtel mit den Fotos war ihr ins Auge gefallen, und schließlich hatte sie der Versuchung nachgegeben. Jetzt lagen sie vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet und erzählten eine Geschichte, an die sie kaum mehr dachte: Roz vor zwölf Jahren in einer Gruppe von Studenten, die vor einem Reihenhaus in Bath elegant wie in einem Jane-Austen-Roman posierten. Ein anderes Bild zeigte eine Gruppe bei einem Protestmarsch gegen Atomkraft – Roz sah sich in der Mitte entschlossen eine Fahne schwingen. Die Ereignisse in Tschernobyl, die nur zwei Jahre zurücklagen, hatten sie gegen Atomkraft aktiv werden lassen.
    Und hier zwei Menschen, Roz und Nathan, an der Bar des Studentencafés. Sie hatten sich umarmt und hielten vor der Kamera die Gläser hoch. Auf einem weiteren Bild war nur Nathan, es war immer eines ihrer Lieblingsfotos gewesen. Er lächelte in die Kamera, hatte schon feine Lachfältchen um die Augen und ließ seinen lässigen Charme spielen.
    Sie erinnerte sich, wie sie ihn in ihrem ersten Unijahr oft an der Bar gesehen hatte, mit dem einen oder anderen Mädchen, nie mit der Gleichen, oder mit einer Gruppe. Einer der Menschen, die ganz natürlich die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie hatte ein- oder zweimal mit ihm gesprochen und fand ihn nett und amüsant. Er hatte bereits sein Examen gemacht, arbeitete an seiner Doktorarbeit, gab nebenbei Seminare. Sein Status schüchterte sie ein.
    Sie konnte sich noch an die Party erinnern, als er sich ihr näherte und sie die ganze Nacht Hand in Hand durch Bristol spazierten, bis in die frühen Morgenstunden redeten, und erst als die Sonne aufging zu ihrem Zimmer zurückkamen. Er hatte einen Blütenzweig von einem Forsythienbusch gebrochen und ihr ins Haar gesteckt. Diesen Zweig hatte sie jahrelang aufgehoben.
    Sie erinnerte sich an ihre erste gemeinsame Nacht. Am nächsten Morgen hatte er seine Studenten vergessen, und sie waren voller Panik zur Universität gerannt und wurden von einer erbosten Sekretärin empfangen. Sie hatte gesehen, wie er dieser Frau mit seinem Charme ein nachsichtiges Lächeln entlockte. »Sie schämen sich aber auch überhaupt nicht«, hatte sie gesagt, und sie gingen zur Bibliothek. Er hatte gegrinst und gesagt: »Aber es funktioniert«, und sein Lächeln und wie er Roz mit den Fingern leicht über den Arm strich, hatte sie an die vergangene Nacht erinnert. Trügt nicht der Schein … Oh, Nathan.
    Der Augenblick sentimentalen Erinnerns rächte sich. Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie suchte nach einem

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