Nachtengel
weggehen sehen.« Farnham tippte mit seinem Kuli auf den Tisch. »Dieses ›gegen‹ macht es möglich. Hagan hat ein schnelles Motorrad. Es ist eine schlechte Straße, aber er könnte in fünf Minuten von der Universität nach Hause fahren, wenn die Straßen frei sind.«
»Okay. Aber er war nicht da. Wishart, oder wer immer es gewesen war, muss eine Nachricht hinterlassen oder mit einer anderen Person gesprochen haben. Ein Gespräch, das drei Minuten dauerte.«
»Hagan sagt, er hätte keine Nachricht erhalten.« Farnham zuckte die Schultern. »Ich kann beweisen, dass ihn jemand angerufen hat. Aber es gibt mindestens hundert gute Gründe dafür, dass keine Nachricht vorlag. Ich will ihn nicht festnehmen, solange er sich noch herauswinden kann. Ich muss mehr Indizien vorbringen können und etwas gegen ihn in der Hand haben, damit er uns nicht entkommt. Ich lasse dieses Handy überwachen. Wenn irgendjemand es benutzt, sind wir blitzschnell da. Aber so lange muss ich abwarten.«
10
Sheffield, Mittwochabend
Als Roz nach Hause kam, war es schon dunkel. Die Gehwege schimmerten nass im Licht der Straßenlaternen, und der Wind zerrte an den Zweigen der Bäume und kündigte Frost an. Morgen würde es eisig kalt werden. Sie ging vorsichtig den Weg zu den Steinlöwen hinauf, die blass im Mondlicht schimmerten. Sie suchte in ihren Manteltaschen nach dem Schlüssel und wühlte dann ungeduldig in ihrer Handtasche, wo er ganz unten in einem Knäuel alter Papiertaschentücher, Busfahrkarten, Stifte und Münzen gelandet war. Sie schloss auf und nahm den Stoß Briefe, der auf ihrer Matte lag. Schnell sah sie sie durch und warf die Reklamesendungen in den Papierkorb, bevor sie in Versuchung kam, sie anzuschauen. Der Rest sah langweilig aus: Rechnungen, ein Kontoauszug ohne Überraschungen, die Kreditkartenauszüge und ein Brief mit ihrer Adresse in einer vertrauten Handschrift, den sie unentschlossen ein paar Augenblicke in der Hand hielt.
Diesen Brief erwartete sie bereits seit einigen Tagen. Die Briefe kamen regelmäßig – je einer im Frühling zu Nathans, einer im Frühherbst zu ihrem eigenen Geburtstag und einer kurz nach Neujahr zu ihrem Hochzeitstag. Nathans Mutter hatte Roz nie Vorwürfe gemacht, dass sie Nathan verlassen hatte, und Roz' finanziellen Beitrag für seinen Aufenthalt in dem Heim, wo er die meiste Zeit verbrachte, nie als selbstverständlich betrachtet, und sie hatte auch ihren eigenen Schmerz nie in Roz' Leben hineingetragen. Nur die Briefe.
Sie stellte den Rest der Post in den Briefständer, ging in die Küche und hielt den Umschlag mit der charakteristischen Schrift ihrer Schwiegermutter in der Hand. Sie kochte Kaffee, setzte sich an den Küchentisch und drehte den Brief immer wieder hin und her. Draußen war es dunkel, und hier an der Rückseite des Hauses, wo Mauern und hohe Bäume den Verkehrslärm fern hielten, herrschte Stille. Sie öffnete den Brief.
Er begann mit den üblichen Grüßen und guten Wünschen für Roz' Gesundheit. Ich werde ein bisschen steif und schwerfällig, schrieb Jenny Bishop, aber ich nehme an, das ist in meinem Alter zu erwarten. In ihrem Alter. Wie alt war Nathans Mutter? Erst sechzig, aber die Anstrengungen der letzten drei Jahre hatten ihren Tribut gefordert.
Jenny Bishop berichtete nicht, dass der Zustand ihres Sohnes sich verändert habe – es war keine Veränderung zu erwarten. Er begreift nicht, warum ich so alt aussehe, schrieb sie. Er sagt mir, ich solle mich nicht anstrengen, sonst würde ich krank werden. Warum kommst du ihn nicht besuchen, Roz, nächstes Mal, wenn er nach Hause kommt? Ich hoffe, dass genau so etwas der Auslöser sein könnte, den er braucht.
Immer wieder diese Bitte in den Briefen und die Hoffnung, dass Roz' Anwesenheit irgendwie das Wunder vollbringen könnte, für das Jenny immer noch lebte. Roz hatte die Hoffnung schon lange aufgegeben. Sie legte den Brief zur Seite – am Wochenende würde sie schreiben.
Sie wusste, was sie heute Abend tun wollte: Noch einmal die Dateien ansehen, die sie von Gemmas Laptop kopiert hatte. Ihr Gespräch mit Holbrook hatte ihr nicht weitergeholfen, aber vielleicht würde ihr irgendetwas auffallen, wenn sie noch einmal alles durchsah. Eigentlich war es jetzt ein rein theoretisches Problem. DI Jordan hatte den Bericht erhalten, der ihr Auskunft über die Dinge gab, die sie wissen musste. Aber das ungelöste Rätsel und das Gefühl, einen Auftrag nicht ganz erledigt zu haben, verfolgten Roz weiter.
Was hatte
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